piwik no script img

Die Realität, wie sie wirklich ist

■ Ganz unten: Das Actors Studio zeigt „At The Bottom“ nach Gorki auf Kampnagel

Das Bühnenbild ist Schrott. Der größte Schrotthaufen befindet sich hinten links, an ihn ist ein Pappschild befestigt, auf dem steht: „Dusche“. Das ist die Dusche. Hinten rechts steht eine kleinere Schrottlaube, auf deren Tür geschrieben ist: „Scheißhaus“. Das ist die Toilette. Und den größten Teil der Bühne bedeckt eine aus Plastiktüten zusammengeflickte, große Decke. Darunter krabbeln die Bewohner dieses unwirtlichen Ortes hervor: gescheiterte Schauspieler, Aids-Kranke, Alkoholiker, Tippelbrüder, Prostituierte. Über dem Ort als Ganzem steht nichts. Aber es könnte etwas stehen: „Realität, ganz unten“. Denn dort befindet sich dieser Ort: ganz unten. Oder, denn es geht um eine internationale Theaterproduktion: At The Bottom. So heißt das Projekt, mit dem das New Yorker Actors Studio seit Mittwoch auf Kampnagel gastiert.

Realität zeigen, wie sie wirklich ist, Menschen zeigen, wie sie wirklich sind, das war von Anfang an der Anspruch des legendären Actors Studios. Daran versucht sich in At The Bottom eine international zusammengewürfelte Schauspielerschar. Zottelige Haare sind zu sehen und zerrissene Kleidungsstücke. Merke: Die berühmte „Methode“ – einen Menschen nicht einfach zu spielen, sondern sich in ihn zu verwandeln – wurde ernst genommen, man wollte sich in reale Obdachlose verwandeln. Manchmal aber lugt aus dem Geschehen doch etwas typisch Theatralisches hervor, ein Aphorismus etwa oder ein fremd wirkendes Handlungsfragment. Das kommt daher, daß At The Bottom eine freie Aktualisierung von Maxim Gorkis Stück Nachtasyl darstellt.

Die Realität ganz unten zeigen, wie sie wirklich ist. Funktioniert es? Zunächst wünscht man sich denn doch, daß die Truppe ein wenig von dem Aufwand, den sie für Realismus aufwendete, dramaturgisch genutzt hätte. Denn als eine solche Collage unverbundener und klischeehafter Kleingeschichten – eine Aids-Kranke stirbt, Liebeständeleien, Streitereien untereinander – ist denn die Realität bei allem Dreck und Schmutz auf der Bühne doch nicht vorstellbar, schon gar nicht in den Vierteln New Yorks, die der Produktion als Vorbild dienten. Zudem viele Schauspielerleistungen hinter dem Anspruch des Studios zurückblieben.

Mit zunehmender Dauer gewinnt die Aufführung aber doch an Format. Oder vielleicht setzt sich auch nur die Willensanstrengung des Ensembles durch. Egal: Wenn auch die Linien der Handlung arg grob gestrickt bleiben, so sind doch einzelne Momente der Aufführung sehr anrührend. Und mit einigen überraschenden Merkwürdigkeiten kann sie auch aufwarten. Beispielsweise lag lange Zeit einer auf einer Bank, von dem man dann irgendwann dachte: Das ist bestimmt ein echter Penner, hier malerisch hindrapiert. Und plötzlich steht er auf und erweist sich als der beste Schauspieler von allen.

Am schönsten aber war der Applaus nach der eigentlichen Vorführung. Denn den verwandelte das auf der Bühne versammelte Ensemble in eine fröhliche, eine partyhafte Demonstration gegen Obdachlosigkeit. Help the homeless, riefen sie tanzend ins Publikum. Dem ist nun wirklich vorbehaltlos zuzustimmen.

Dirk Knipphals

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen