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Theater und Therapie

Das Theater Thikwà in Kreuzberg bietet Behinderten eine künstlerische Ausbildung und einen abgesicherten Arbeitsplatz – ein einmaliges Pilotprojekt  ■ Von Inge Braun

Ich, du nicht!“ zischt „Kneipen-Jo“. Kinn hoch, Ellbogen zeigen: kein Weichling sein. Sein Rivale baut sich vor ihm auf, faucht: „Ich will sie haben!“ Aus dem Ghettoblaster in der Ecke dröhnt Tanzmusik. Die junge Frau lächelt, macht ein paar Tanzschritte vor und zurück, dreht sich im Kreis. Dabei schwenkt sie ihre Federboa – sanft, souverän. Die alte Geschichte: zwei Männer, eine Frau. Den einen schaut sie fasziniert an. Der andere muß das Feld räumen.

Schauspieltraining im Thikwà Theater. Paul, Lutz und Anja spielen die Szene noch mal. Die anderen aus der Truppe schauen gespannt zu. Die Regisseurin, Christine Vogt, gibt Anweisungen, feuert ihre Schauspieler an: „Los, zeig ihm, daß du 'n Kerl bist, blas dich auf!“ ruft sie Paul zu.

Die Schauspielerin und Kunsttherapeutin Christine Vogt hat das Theater Thikwà, in dem behinderte Laiendarsteller und (nichtbehinderte) professionelle Schauspieler, Regisseure und Musiker gemeinsam Stücke erarbeiten und aufführen, vor knapp sechs Jahren gegründet. Ihr Interesse an der Theaterarbeit mit Behinderten entstand, als sie selbst vor elf Jahren nach mehreren Operationen auf Krücken und Rollstuhl angewiesen war.

„Jeder fragt, was Thikwà bedeutet“ erzählt die 39jährige Schweizerin und lacht. Das hebräische Wort heißt Knoten, aber auch Hoffnung. Der symbolische Name war für Christine Vogt Auftakt zu einer neuen Art von Theater, das sich „im Spannungsfeld zwischen Kunst und Therapie“ bewegt. Mitte August hat das Theater seine erste eigene Werkstatt in der Oranienstraße bezogen. Hier erhalten körperlich und geistig Behinderte eine künstlerische Ausbildung. Finanziert wird der dreijährige Modellversuch vom Gesundheitsministerium. Das ist einmalig in Deutschland. Galten doch bisher künstlerische Aktivitäten von Behinderten als Freizeitbeschäftigung. Mit der Schaffung von vertraglich abgesicherten Arbeitsplätzen in Kooperation mit der Nordberliner Werkgemeinschaft (NBW) hat das Thikwà Theater Neuland betreten. „Das Projekt ist behindertenpolitisch ein Durchbruch, eine kleine Revolution“, erklärt der Geschäftsführer, Rainer Esche. Doch er bleibt Realist: Das Team sucht schon jetzt nach einer stabilen Finanzierungsbasis, um das Projekt auch über das Jahr 1997 sicherzustellen. Dann nämlich läuft die Finanzierung des Modellversuchs aus.

Momentan besteht die Theatergruppe Thikwà aus zehn Mitgliedern im Alter von 21 bis 55 Jahren, darunter zwei Rollstuhlfahrer. Drei von ihnen können lesen und schreiben, einen Schulabschluß hat keiner gemacht. Die meisten sind erst seit kurzer Zeit hier, das Ensemble wird gerade neu aufgebaut.

Im Zentrum der Ausbildung steht das Theatertraining. Der handwerkliche Teil der Ausbildung wird in der Werkstatt absolviert, wo sich die Kunsttherapeutin Gerlinde Althaus der „psychisch rehabilitiven Betreuung“ widmet. Während der gesamten Ausbildungszeit sind drei Produktionen zusammen mit professionellen Schauspielern geplant. Zwischendurch wird die Truppe in regelmäßigen Abständen kleinere Performances aufführen.

Aufsehen erregt hat das Thikwà Theater bereits 1990 mit seiner Inszenierung „Im Stehen sitzt es sich besser“, einer Bearbeitung des Kaspar-Hauser-Stoffes. Vier weitere Produktionen folgten. Die letzte vor zwei Jahren nach einer Vorlage von Gertrude Stein „Da Hat Der Topf Ein Loch – Eine Liebesgeschichte“. Trotz überschwenglicher Kritiken hatte das Ensemble mit etlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die behinderten Darsteller waren manchmal durch die Theaterarbeit überreizt und gespannt, zumal die Proben abends, nach einem achtstündigen Arbeitstag stattfanden. Dies beunruhigte Eltern und Betreuer, die die Vormundschaft innehaben. Schließlich mußten einige Mitglieder, darunter zwei der „Stars“, die Theatergruppe verlassen. Neue kamen hinzu.

Anja ist seit drei Monaten dabei. Sie leidet an einem Down-Syndrom und ist mit 23 Jahren die Jüngste in der Gruppe. Anfangs hat sie sich geschämt, Theater zu spielen. Inzwischen zeigt und verkleidet sie sich gerne. „Das ist nicht richtig, daß wir nur Behinderte sind. Wir haben ja auch eine künstlerische Begabung“, sagt ein Schauspielschüler. Viele aus der Truppe waren immer wieder den unterschiedlichsten Aggressionen ausgesetzt, wurden mit Worten wie „Spasti“ oder „Hirni“ beschimpft. Schmerzliche Erfahrungen, über die erstmals in der Gruppe gesprochen wird.

Paul, der 27jährige Urberliner, ist leidenschaftlicher Schauspieler. In einer Behinderteneinrichtung hat er bereits Theatererfahrungen gesammelt und kann auf ein reichhaltiges Repertoire an Rollen zurückblicken: als Butler, Bulle, Bayer in Trachtenuniform. Er träumt davon, ein großer Schauspieler zu werden.

Auch Lutz träumt diesen Traum. Am liebsten würde er mal im Friedrichstadtpalast auftreten. Wie lange er dabei ist? Viele Jahre, einige Monate oder wenige Wochen – mal so, mal so. Lutz hat seine eigene Zeit, lebt ganz in seiner Welt. Nicht immer sind seine Worte für andere verständlich. Doch wenn er mit seiner Tenorstimme singt, sind alle begeistert.

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