: „Was bedeutet das: ,Gas weg‘?“
Er liest im Stehen, spricht „Pritzwalk“ englisch aus und bekommt Espresso-Entzugs-Erscheinungen. Auf Lesereise durch Brandenburg mit dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertész ■ Von Peter Walther
Imre Kertész kommt als Jugendlicher nach Auschwitz, wird an der Selektionsrampe ausgesondert und nach Buchenwald zur Arbeit verbracht. Als die Amerikaner das Lager befreien, ist er 16 Jahre alt. Er geht zurück nach Ungarn, arbeitet als Journalist, als Übersetzer (u.a. Hofmannsthal, Canetti, Freud, Nietzsche, Wittgenstein) und seit 1953 als freier Schriftsteller. Im Oktober ist Imre Kertész auf Einladung des Literaturbüros in Potsdam auf einer Lesereise unterwegs im Land Brandenburg.
Ich treffe ihn in Fürstenwalde und begleite ihn auch auf den anderen Stationen seiner Reise. Meine Befangenheit weicht bei der ersten Begegnung. Ich stelle mich vor. Pardon, er habe meinen Vornamen nicht verstanden, nein, eigentlich den Nachnamen, in Ungarn sei eben alles umgekehrt, deshalb signiere er auch mit „Kertész Imre“.
Später die Lesung in der Kulturfabrik. Der Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Kertész schlägt die angebotene Sitzmöglichkeit aus und liest im Stehen vor seinem Publikum: „Fragen Sie mich nach dem Glück. Fragen Sie mich nach dem Glück der Konzentrationslager.“ Die Lesung ist zu Ende, eine Stunde im Stehen. Soll man jetzt klatschen? „Vor fünfzig Jahren hätte man mich umgebracht“, sagt er später im Auto, „heute hören sie mir zu. Das ist ein wirklicher Fortschritt. Was kann man mehr verlangen in so kurzer Zeit?“
Juni 1989. Ich kenne durchaus keine „Identitätsprobleme“. Daß ich „Ungar“ bin, ist um nichts absurder, als daß ich „Jude“ bin, und daß ich „Jude“ bin, ist nicht ein Stück absurder, als daß ich überhaupt bin.
Wir fahren am nächsten Tag von Fürstenwalde nach Berlin, wo ich Kertész bei seiner deutschen Lektorin absetze. Der Stadtplan liegt auf seinem Schoß, und wir finden gemeinsam durch das Gewirr der Friedenauer Seitenstraßen zum Friedrich-Wilhelm-Platz. „Wollen wir noch einen Espresso trinken?“ fragt Kertész in seinem breiten, melodischen Akzent, der in unseren Ohren wienerisch klingt, für die Wiener jedoch unverkennbar ungarisch ist.
Ich frage eine Passantin nach einem Café in der Nähe. Die Chancen stehen schlecht: links und rechts eine reine Wohngegend, nach vorne zu die Bundesallee, öde Großstadtlandschaft. Prompt die Auskunft: „'n Café jibt 'et hier nich, jedenfalls nich zwischen Bolle und S-Bahn. Und weita komm ick nie.“ Kertész ist fasziniert: „Zwischen Bolle und S-Bahn, und sie hat sogar gelächelt.“ Ein paar Schritte hinter dem S-Bahn-Viadukt finden wir ein Café und essen zu Mittag.
1966. Der Gedanke, daß auch nur jemand mein heimliches Tun und die damit verbundene Lebensweise verstehen könnte, ist mir so fremd, daß ich imstande bin, mit wem auch immer völlig ungezwungen über mich selbst zu witzeln, ohne mir dabei auch nur im geringsten Maße lächerlich vorzukommen.
Am Abend in Pritzwalk, einer abgelegenen Stadt im Norden Brandenburgs. Hier hat sich in den letzten Jahren äußerlich nicht viel getan. Wir fahren durch Straßen, die von staubgrauen, kleinen, meist zweistöckigen Häusern gesäumt werden. Um sechs Uhr abends ist es vollkommen finster, nirgendwo ein Mensch. Als endlich wieder ein Licht zu sehen ist, halten wir an: Es ist das Hotel.
Gut hundert Besucher kommen zur Lesung in die Stadtbibliothek, viele sind aus den umliegenden Döfern angereist. Bei aller Freude über die gutbesuchte Veranstaltung bleibt ein Rest Skepsis: „Wie kann man hier wohnen und sich für den Holocaust interessieren?“ fragt Kertész, ohne eine Antwort zu erwarten.
Im Hotel-Restaurant sind wir die einzigen Gäste. Er bestellt Hirschbraten. Ich mache Witze, um ihn von der Tristesse abzulenken: „Den Hirsch haben sie nachts in der Innenstadt geschossen.“ Er lacht mich breit über das ganze Gesicht an. – „Warum hat mich das Mädchen bei der Lesung gefragt, ob ich die Deutschen hasse?“
Ich erzähle Kertész – aus zweiter Hand – von einer Lesung mit Louis Begley in Rheinsberg. Eine Journalistin, vielleicht Mitte Zwanzig, sei da aufgestanden und habe Begley gefragt: „Glauben Sie, daß die Deutschen, daß unsere Eltern die Wiedervereinigung verdient haben?“ Darauf Begley: „Das kann ich nicht einschätzen, ich kenne ja Ihre Eltern nicht.“ Kertész amüsiert sich noch tagelang über diesen Zusammenstoß von Selbstgeißelungspathos und Pragmatismus.
4. Februar 1989. Gestern blieb ich, nachdem ich aus dem Autobus gestiegen war, am Wallenberg- Denkmal stehen. Neben mir ein Mann, der in den Sechzigern gewesen sein mochte. Wir schauten, wer den Kranz mit den blau-weiß-roten Schleifen niedergelegt hatte. Ohne Umschweife sprach er mich an: Ob ich wisse, wer das sei? Dieser Mann habe 1944, fuhr er fort, das Leben Zehntausender Menschen gerettet. „Und trotzdem haben nicht die Deutschen ihn verhaftet“, sagte er, „obwohl sie ja Grund dazu gehabt hätten. Aber wie dem auch sei“, fügte er hinzu, „die Deutschen sind eben ein Kulturvolk.“ In meiner Verblüffung konnte ich gerade noch einwenden, dieses Denkmal beweise eigentlich das Gegenteil, vor wem habe denn Wallenberg die Menschen gerettet? „Das stimmt“, erwidert er, „damals ja, aber seitdem...“ Dann ruhig und fast triumphierend: „Aber die Russen haben ihn dann verhaftet, nach Sibirien verschleppt und umgebracht.“ Eine ziemlich originelle Interpretation, doch sie trägt zweifellos den Stempel der Zeit.
Pritzwalk (Kertész spricht die zweite Silbe englisch aus: Pritz- walk), Pritzwalk war ein Erlebnis, aber man muß es nicht übertreiben. Weil die nächste Lesung im dreißig Kilometer entfernten Kyritz erst am Abend stattfindet, schlage ich einen Ausflug nach Lübeck vor. Er stimmt sofort freudig zu: „Meine Jugend, Thomas und Heinrich Mann.“ Nach zwei Stunden Fahrt Espresso-Entzugs-Erscheinungen. Wir flüchten uns in ein Café, dann in die Marienkirche und ins Buddenbrook-Haus. „Vielleicht ist ,Henry IV.‘ kein großer Roman, aber der erste Satz ist großartig“, meint der Schriftsteller: „Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer.“
Januar 1987. Geistige Tiefe der Ideologien interessieren mich lediglich bezüglich der Frage, ob sie dazu führen, daß ich verhaftet werde oder nicht.
„Wo fahren wir jetzt hin, Kyrie eleison?“ fragt mein Beifahrer gut gelaunt. Wie schon zuvor in den anderen Orten kommen wir auch in Kyritz im besten Haus am Platze unter, „Landhaus Feighe“, ein nobel ausgebautes Gehöft. Die Besitzerin, solariumgebräuntes Gesicht, kündigt sich durch einen kurzbeinigen Hund an, der ihr stets um ein paar Schritte voraus ist. Der Hund macht auf den Fliesen Geräusche, als hätte er acht Beine.
Später, in der Stadtbibliothek, wieder das vertraute DDR-Ambiente. Nach der Lesung sitzen wir noch mit Freunden zusammen, die aus Potsdam und Berlin angereist sind, und begeistern uns zum sichtlichen Vergnügen des Autors, einer den anderen überschreiend, für die Schilderung seiner Ost-Berlin-Erlebnisse von 1980 im „Galeerentagebuch“. Das knatternde Geräusch, das ihn immerfort begleitete, wenn er durch die Straßen lief, bis er erkennt, worum es sich handelt: Die ins Gehwegpflaster eingelassenen Halterungen der Fahnenstangen rütteln hin und her: „die ganze Stadt knattert und rasselt“.
Zur Erklärung ihrer Depression nehmen die Menschen zu den unterschiedlichsten Lügen Zuflucht. Für meine Depressionen ist die Wahrheit vollkommen ausreichend.
Am Morgen die Rückfahrt zum Flughafen nach Berlin. Am Straßenrand signalfarbene Schilder, auf denen Kinder mit Schulranzen zu sehen sind, die fröhlich die Straße überqueren. Darunter in großen Buchstaben die Aufforderung, das Tempo zu drosseln. Ich fahre schneller und lenke Kertész mit Fragen ab. Irgendwann, beim fünften oder sechsten Schild, kommt die unvermeidliche Frage: „Was bedeutet das, ,Gas weg‘?“
Juli 1976. Wo nur ist diese ausgezeichnete Geschichte vom Lord und seinem Diener zu lesen? Der zurückgezogen lebende Lord wird gefragt, warum er sich vor dem Leben verschließt. Die Frage erschüttert den Lord: Was heißt Leben? Nun, Geselligkeit, Pferderennen, Freunde, Heiraten, eine Familie gründen, wird ihm gesagt. Ach so, antwortet der Lord darauf, nun, wenn das Leben heißt, das erledigt auch für mich mein Diener.
Die kursiven Stellen sind zitiert aus Imre Kertész: „Galeerentagebuch“. Rowohlt Verlag, Berlin 1993
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