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Viele verzückte Lufttrommler

■ Trostspender und Anlaß zu Traurigkeit: ein Rückblick auf das 20. Hamburger Jazzfestival

Ist es nicht tröstlich, daß es in einer Zeit, da scheinbar auch die allerrebellischste Musik dazu dienen kann, die Attraktivität einer Automarke, eines Duftwassers oder eines Softdrinks zu erhöhen, da draußen doch noch eine Musik gibt, die sich jeder Vermarktung kalt entzieht? Diesen Trost konnte man nach Cecil Taylors Darbietung mit nach Hause nehmen, die ein Festival beendete, das am Wochenende in der Fabrik auch viel Anlaß zum Traurigsein gegeben hat.

Nicht jedoch für das zwanghaft fröhliche Dritte-Welt-Laden-Publikum, das beim Brasilien-Abend jeden Ton gaaaaanz toll fand. Was wurde geboten? João Bosco gab seinen vor allem rhythmisch ausgetüftelten Songs in einer Drei-Gitarren-Besetzung einen ausgesprochen warmen, angenehmen Sound. Leider erinnerte er mit seinem eitlen Bühnengebaren gelegentlich an einen Eppendorfer Damenfriseur. Bei der Karnevalsshow von Baby do Brasil und ihren Miniplimännern konnte man meinen, es handele sich um eine Grußadresse der Prostitutionsmetropole Rio de Janeiro an die Prostitutionsmetropole Hamburg. Oder auch um eine Werbeveranstaltung für den Sextourismusstandort Brasilien. Die tausend Trommeln der französisch-brasilianischen Samba-Reggae-Truppe Tupi Nago erwärmten schließlich das Herz eines jeden Percussion-Workshop-Besuchers – selten so viele verzückte Lufftrommler gesehen! All diese gute Laune schien jedoch zuviel für den Bodyguard der NDR-Kamera Nr. 3 gewesen zu sein: Sobald jemand in die Acht-Meter-Todeszone von Kamera Nr. 3 eindrang, wurde der Sünder am Kragen gepackt. Immerhin: Mit solchen Angestellten braucht der Walroßsender auch in Zukunft vor den Privaten keine Angst zu haben!

Bis wir am nächsten Abend in der Genuß der Cecil-Taylor-Darbietung kamen, mußten wir noch an Greetje Bijma und dem Willem Breuker Kollektief vorbei. Das Kollektief erwies sich als bestens eingespielte Truppe freundlicher holländischer Lateinlehrertypen, die auch die unspielbarsten Ensemblepassagen mit größter Gelassenheit bewältigten. Greetje Bijmas Hauptanliegen schien es zu sein, klarzumachen, daß sie, Frau Bijma, ein außerordentlich fröhlicher Mensch ist, und zwar weil sie im Besitz eines höheren Wissens sei, das das Gewusel und Gewese der Menschlein hienieden zu einer wirklich nur noch zu belächelnden Unwichtigkeit macht. Spätestens als sie mit ihrem machtvollen Organ zu einem vibratoreichen Belcantowalkürenritt ansetzte, wurde es wieder Zeit für die Bar.

Wer nun dachte, daß Cecil Taylor ein etwas intelligenteres Publikum anzieht, sah sich getäuscht: Als sich einige Neugierige vor den Bühnenrand wagten, wurde von hinten sofort „Hinsetzen!“ trompetet. Da diesem Befehl nicht sofort Folge geleistet wurde, kam es wiederum zu Handgreiflichkeiten. Man mußte an den Witz von der idealen Welt denken, in der alle Deutschen Verkehrspolizisten sind. Glücklicherweise kam in diesem Moment von der Bühne die passende Antwort: Der Punk-Rock-hafte Krach von Taylor und seinen vier Mitstreitern killte Sitzordnungen und Schöngeisterei auf der Stelle. So hatte diese energiegeladene Musik, die auf alle einengenden Regulatorien verzichtet, auf tradierte Spielweisen, tonale Systeme und Aufbauprinzipien und so zu einem puren Zusammenspiel kommt, die Wirkung eines reinigenden Gewitters. Am Ende des Festivals war die Luft in der Fabrik tatsächlich deutlich besser. Detlef Diederichsen

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