: Ein Prinz in der Höhle des Plattenbaulöwen
■ Nichts ist in Hellersdorf mehr so, wie es war: Seine Königliche Hoheit Prinz Charles besuchte die Plattenbausiedlung und schlürfte bei Familie Kunz Rotkäppchen-Sekt
Für eine knappe Stunde erstrahlte gestern nachmittag die Hellersdorfer Plattenbausiedlung in königlichem Glanz. Die Rabatten um den Cecilienplatz waren frisch geharkt, die zarten Grünpflanzen very correctly an Stöckchen festgebunden. Das elfstöckige Haus in der Ernst-Bloch- Straße 35, das für den zwanzigminütigen Besuch Seiner Majestät ausgewählt worden war, hatte sogar eine neue Klingelanlage bekommen. Die Fahrradständer waren poliert, Abfalleimer, Bänke und der Hausflur frisch gestrichen. Everything looked very nice. Schließlich sollte Seine Königliche Hoheit einen authentischen Eindruck davon bekommen, wie die Platten-Ostdeutschen so wohnen.
„Und bei mir im Haus sieht es aus wie Sodom und Gomorrha“, schimpfte eine Frau am Kiosk am Cecilienplatz. „Bei uns im Haus stinkt es nach Pisse“, sagte eine 14jährige Schülerin. Trotzdem wollte sie, wie Hunderte andere auch, den Prinzen „mal live sehen“. Why? „Der stammt von einer Königin ab und hat mächtig Kohle.“
Bevor Prinz Charles gegen 15 Uhr seinen königlichen Fuß in die Wohnung im achten Stock des elfgeschossigen Hauses setzte, hatten mehr Sicherheitbeamte als Hausbewohner das Objekt durchsucht. Wer reinwollte, mußte sich als Bewohner ausweisen oder das Kennwort sagen, das wie „Fergies Kino“ klang. Auch der Prinz kam nicht ganz unvorbereitet. Bei einem Empfang im Roten Rathaus war er über „die historische Bedeutung der Plattenbauweise in Osteuropa“ informiert worden. So betrat der Mann, dessen königliches Haupt auch eine kleine Platte ziert, well-prepared und in Begleitung von unserer Berliner Königlichen Hoheit Eberhard Diepgen und Bausenator Wolfang Nagel, die Höhle des Plattenbaulöwen. Tapfer lächelte er sich durch die Hunderten von Schaulustigen. Nach stundenlangem Warten in der Kälte verloren diese bei seinem Eintreffen ihre gute Erziehung und drängelten very much, um wenigstens ein Ohr des Prinzen auf die Videokamera zu kriegen. Daß dabei zartes Rabattengrün achtlos zertrampelt und kleine Kinder umgeschubst wurden, ließ sich eben nicht vermeiden.
Die ausgewählte typische Hellersdorfer Familie hieß Kunz, die eine Dreizimmerwohnung im achten Stock bewohnt. Nach Angaben der königlichen Nachrichtenagentur dpa stand auf der braunen Schrankwand das Buch von Prinz Charles „Der alte Mann von Lochmagar“. Ein Werk, das wohl in kaum einer Plattenbau-Wohnung fehlt. Prinz Charles soll neben dem siebenjährigen Sohn auf einem hellen Dreiersofa Platz genommen haben. Sohnemann habe sich vorher, so dpa weiter, auf Mutters Geheiß die Hände waschen müssen. Damit Seine Hoheit eine very authentic impression bekommt, gab es Rotkäppchen-Sekt. Das landestypische Gesöff eben, das selbst in einem Neubau zur tea-time gehört. Ob Charles es mit oder ohne Milch getrunken hat, vermeldete dpa nicht. Barbara Bollwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen