Europaparlament gibt Bedenken zur Türkei auf

■ Trotz der anhaltenden türkischen Menschenrechtsverletzungen scheinen nun auch die EU-Sozialisten auf Zustimmung zu einer Zollunion umzuschwenken

Straßburg (taz) – Das Europäische Parlament steuert auf eine peinliche Veranstaltung zu. Am 13. Dezember sollen die Abgeordneten über die Zollunion der Europäischen Union mit der Türkei abstimmen, deren Beginn für den 1. Januar 1996 geplant ist. Vor allem bei den Sozialisten scheinen immer mehr Parlamentarier bereit, von ihren Bedenken abzurücken und mit der Mehrheit der Konservativen der Zollunion zuzustimmen. Einzig mögliche Begründung: Die Menschenrechtssituation in der Türkei habe sich seit der letzten ablehnenden Abstimmung im März verbessert.

Doch in derselben Sitzungswoche wird das Europaparlament auch den Sacharow-Preis verleihen – an die kurdische Abgeordnete Leyla Zana, die den Preis leider nicht selbst in Empfang nehmen kann, weil sie wegen ihres Eintretens für die Rechte der Kurden zu 15 Jahren Haft verurteilt worden ist und in der Türkei einsitzt. Auch ihr Mann kann nicht kommen. Er wurde nach einer Rede vor dem Europaparlament ebenfalls verhaftet.

In Straßburg wird eine Verschiebung der Abstimmung über die Zollunion nach wie vor für möglich gehalten. Die Abgeordneten konnten sich gestern nicht darüber einigen, ob eine Entscheidung vor den für Ende Dezember angesetzten türkischen Parlamentswahlen nützlich oder schädlich ist. Der EU-Ministerrat, in dem die 15 Mitgliedsregierungen vertreten sind, hat sich bereits vor einigen Wochen für die Zollunion ausgesprochen, das letzte Wort hat nun das Europaparlament.

Dort ist etwa die Hälfte der Abgeordneten der Meinung, daß die türkische Regierung erst für die Freilassung aller inhaftierten Abgeordneten sorgen und im Umgang mit der kurdischen Bevölkerung ein deutliches Zeichen geben müsse, daß eine politische Lösung angestrebt wird.

So fordern die Grünen, das Europaparlament solle die Abstimmung aussetzen und gleichzeitig deutlich machen, daß eine engere Zusammenarbeit gewünscht wird. Fraktionschefin Claudia Roth wertete es als ersten Erfolg, daß der gemischte Parlamentsausschuß von türkischen und EU-Abgeordneten, der eingefroren war, nun wieder aktiv werden soll: „In der jetzigen Situation ist es nötiger als je, den Dialog zu führen.“

Doch der Druck auf eine schnelle Entscheidung nimmt zu. In den letzten Monaten haben rund 200 Europaabgeordnete auf Einladung von Ankara die Türkei besucht. EU-Kommission und Ministerrat drängen, die Türkei jetzt nicht hängen zu lassen. Vor allem bei den britischen Labour-Mitgliedern zeichnet sich ein Stimmungsumschwung ab. Parteichef Tony Blair will in den nächsten Wochen selbst nach Straßburg reisen, um seine Leute auf die Zollunion einzuschwören. Alois Berger