Süße Erregung

■ Kampnagel: Klangexperimente nach dem chinesischen Komponisten Tan Dun

Der Himmel verdunkelte sich über dem kulturrevolutionären Osten Chinas, als 1976 ein Boot, auf dem das örtliche Peking-Opern-Ensemble unterwegs war, leck schlug und sank. Viele Musiker fanden den Tod. Hätte sich die Tragödie nicht ereignet, würde der Komponist Tan Dun vielleicht noch heute durch schlammige Felder waten und Reis anpflanzen. Und nur zum Hobby könnte er seinen eigenwilligen Klangexperimenten nachgehen.

Aber es kam alles anders: Das Unglück schlug Breschen ins Opernorchester, Tan Dun sprang als Geiger ein. So entging er dem maoistischen Erziehungsplan, wurde Komponist und lebt heute in Amerika. Doch in seinen eigenen Werken konzentriert sich Tan auf die chinesischen Traditionen und bemüht sich, die besondere Klanglichkeit und die kontemplative Kraft der Musik seiner Heimat mit westlichem Musikdenken zu verschmelzen. Nicht zuletzt wegen dieses grenzüberschreitenden Anspruchs war das Konzert der diesjährigen Know No Bounds-Reihe am Donnerstag abend auf Kampnagel ganz Tan Duns Werk gewidmet.

Die neueren Arbeiten für Kammerensemble lassen Tans souveränen Umgang mit abendländischen Konventionen erkennen. Sein zweites Streichquartett „Eight Colors“ ist ein Tableau acht kurzer Sätze. Die Mittel beschränken sich im wesentlichen auf Pizzicato, zart hinziehende Töne, abfallendes Tremolo, hinaufzwitscherndes Glissando, trockene Schläge mit Hand und Bogen – nichts Ungewöhnliches. Doch die Miniaturen mit Titeln wie „Peking Opera“, „Pink Actress“ oder „Zen“ offenbaren ungeahnte Bilder. In dieser reifen Komposition färbt, formt und gestaltet Tan Dun die umgebende Stille.

Taxifahrer vieler Länder trugen ihr Scherflein zu „Memorial: 19 Fucks“ (1993) bei. Sie übersetzten Tan den Vulgärbegriff von „Kopulation“ in ihre Landessprachen und schufen die Textgrundlage eines szenischen Spiels für Kontrabassisten, Pianisten und Sopranistin – alle in HipHop-Verkleidung. Begann die Sängerin ihre Litanei noch ruhig im Publikum sitzend, steigerte sie sich bald zwischen den Musikern zur hysterischen, süßen Erregung und warf endlich Kondome. Lustig. Aber die Sozialkritik an den Schnodderigkeiten eines konsumorientierten globalen Sittenverlustes verriet Tan Dun doch als Kind der Kulturrevolution.

Maria Blumenfeld