: Völkermord wird immer noch nicht bestraft
Nürnberg zum Trotz und den Vereinten Nationen zur Schande: Es gibt immer noch kein Internationales Strafgesetzbuch. Ein neues und wichtiges Buch von Gerd Hankel und Gerhard Study über das Völkerstrafrecht erklärt, warum ■ Von Gabriele Lesser
Der Nürnberger Prozeß wird allenthalben als „Jahrhundertprozeß“ gefeiert, der das Völkerrecht einen großen Schritt weitergebracht hat. In Wirklichkeit gibt es bis heute kein internationales Gesetz, das das Führen eines Aggressionskrieges unter Strafe stellen würde. Das gleiche gilt für „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Es gibt weder einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof noch ein Internationales Strafgesetzbuch. Zwar arbeiten seit 1946 mehrere UN-Kommissionen an immer neuen Entwürfen, aber die Generalversammlung der UN hat bis heute konsequent jeden Fortschritt auf dem Gebiet des internationalen Rechts verhindert. Sicher, die UNO hat die Urteile der internationalen Nachkriegs- Gerichtshöfe in Nürnberg und Tokio bestätigt, sie hat Kriegsächtungen formuliert, die Genfer Konventionen über Kriegsverbrechen und Resolutionen verabschiedet, die den Völkermord verdammen. Doch wer die Erklärungen analysiert, wie es die Autoren des von Gerd Hankel und Gerhard Stuby herausgegebenen Sammelbandes „Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen“ getan haben, kommt zu einem unfaßbaren Ergebnis: Der Holocaust war nach damaligem Völkerrecht legal!
Es gab keine internationalen Menschenrechtsvereinbarungen, die die Zivilbevölkerung unter besonderen Schutz stellten. Der Skandal ist: Bis heute hat sich daran nichts geändert! Und der zweite Skandal ist, daß alle es wissen, aber eben nicht wissen wollen. In aller Gemütsruhe sitzen wir vor dem Fernseher und lassen die Bilder von Massakern, Konzentrationslagern und Leichenbergen aus Ruanda und Exjugoslawien an uns vorübergleiten.
Aus dem verzweifelten „Nie wieder“ von vor fünfzig Jahren ist ein internationaler Wettstreit um das größte, häßlichste und teuerste Denkmal zum Holocaust geworden. „Nie wieder!“ heißt es noch immer. Doch gemeint ist: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Ich bekenne mich zum Holocaust. Niemand wird uns dieses einmalige Verbrechen wegnehmen oder nachmachen. Nie wieder!“
Die sechzehn Autoren des Sammelbandes, allesamt ausgewiesene Juristen aus Deutschland, Amerika, Frankreich und Südafrika, sprechen eine andere Sprache. Kühl analysieren sie zunächst den Nürnberger Prozeß, dann die aktuelle Situation des Völkerstrafrechts und zum Schluß Problemfelder, wie etwa „Nürnberg und die Nuklearfrage“ oder „Die Rolle der Wahrheitskommission in Südafrika“. Der Band geht auf die Initiative des Hamburger Instituts für Sozialforschung zurück und dokumentiert die juristische Diskussion innerhalb des Projektes „Gewalt und Destruktivität im 20. Jahrhundert“.
Alle Beiträge sind bis auf eine peinliche Ausnahme über „Die Nürnberger Prinzipien im Spiegel von Gesetzgebung und Spruchpraxis sozialistischer Staaten“ auf einem außerordentlich hohen wissenschaftlichen Niveau angesiedelt. Im Anhang ist sowohl das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg als auch das des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für Exjugoslawien abgedruckt.
Der Vorwurf, daß der Nürnberger Prozeß ein „Tribunal der Sieger“ gewesen sei, ist für die Experten kein Argument gegen den Prozeß, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ohne den Sieg der Alliierten und ohne die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hätte es ihn nie gegeben. Im März 1943 hatten Churchill und Roosevelt völlig ernsthaft über eine Alternative diskutiert: die summarische Erschießung der 50.000 bis 100.000 Hauptverantwortlichen. Es war eine politische Entscheidung, die Hauptkriegsverbrecher vor ein Gericht zu stellen, das es vor dem Krieg nicht gegeben hatte.
Daß das „Tribunal der Sieger“ keine Siegerjustiz sprach, ist den acht Richtern und den Medien zu verdanken. Der Prozeß war von Anbeginn öffentlich. Die vierte Macht im Staate, wie die Presse so gerne genannt wird, übte tatsächlich eine demokratische Kontrolle aus. Das am 8. August 1945 in London verabschiedete Statut für den Internationalen Gerichtshof schrieb revolutionäre Änderungen für das Völkerrecht fest.
Zum ersten Mal sollten sich einzelne Personen für staatliche Verbrechen verantworten. Damit wurde ein bisheriges Prinzip des Völkerrechts, die de-facto-Immunität von Regierungsmitgliedern und Generälen, aufgehoben. Verbrechen, die „im Amt“ und unter dem Schutzschild der „inneren Souveränität des Staates“ begangen wurden, waren ab sofort nicht mehr straffrei.
Der Einwand, daß dieses neue Prinzip in Nürnberg rückwirkend angewendet wurde, ist richtig, klingt aber mehr als sophistisch angesichts des grenzenlosen Leids und der Zerstörung, für die die Angeklagten verantwortlich waren. Die „Nürnberger Prinzipien“ haben das Völkerrecht tatsächlich einen großen Schritt voran gebracht. Daß die Fortentwicklung des Völkerrechts seitdem stagniert, ist kein Zufall, sondern Absicht.
Bereits das Statut von London enthält die Klausel, daß das Internationale Gericht in Nürnberg nur für die Verbrechen der Achsenmächte zuständig ist. Damit war es den Politikern gelungen, eine Verfolgung der im Krieg von den Alliierten begangenen Verbrechen zu verhindern. Robert Jackson, Justizminister a.D. und „Vater des Nürnberger Prozesses“, hatte noch 1945 gehofft, mit dem Prozeß einen Präzedenzfall für einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen. Dort hätten dann die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verhandelt werden können, außerdem der sowjetische Mord an mindestens 15.000 polnischen Offizieren in Katyn, die Verschleppung der polnischen Zivilbevölkerung aus dem besetzten Ostpolen nach Sibirien, das amerikanische und britische Flächenbombardement deutscher Städte, die französische Kollaboration mit den Deutschen bei der Ermordung der französischen Juden.
Verständlicherweise hatten die Alliierten keinerlei Interesse an einem Ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Und dabei ist es bis heute geblieben. Auch wenn die UN-Generalversammlung oder der Sicherheitsrat wortreich das Gegenteil behaupten, genügt eine einzige Frage, um die „vielen Fortschritte im Völkerrecht“ zu toten Buchstaben werden zu lassen: „Wo ist das Internationale Strafgesetzbuch, und an welchem Gericht wird danach Recht gesprochen?“
Der Hinweis auf die Resolutionen vom Mai 1993 und Oktober 1994, die ein Jugoslawien- und ein Ruanda-Tribunal begründen, ist insofern irreführend, als diese im Grunde nur eine Neuauflage des Nürnberger Tribunals von 1945 darstellen. Sie sind nicht als ein erster oder vielleicht sogar zweiter Schritt auf dem Weg zu einem Ständigen Internationalen Gerichtshof zu werten. Darüber hinaus – und hier sind sich alle Experten einig – ist noch höchst fraglich, ob es im Falle von Jugoslawien überhaupt zu einem Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher kommt.
Durch die Verhandlungen mit den Aggressoren, den Schreibtischtätern und Mördern, begibt sich die Welt der Möglichkeit, diese Staatsverbrecher nach Kriegsende vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Um dennoch das Gesicht zu wahren, könnten nach dem Friedensvertrag ein paar Massenmörder, die man ohnehin loswerden muß, abgeurteilt werden. Die eigentlichen Drahtzieher des Krieges könnten dann – nach einer Schamfrist von ein, zwei Jahren – für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen werden.
Gerd Hankel/Gerhard Stuby (Hrsg.): „Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen“. Hamburg (Hamburger Edition) 1995, 536 Seiten, 58 DM
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