: 28 Millionen erwachsene Polen spielen Bingo
■ Staatsbetriebe sollen jetzt endlich privatisiert werden. Anteilsscheine kosten etwa zwölf Mark. In etwa einem Jahr gehen die 15 Investmentfonds an die Börse
Warschau (taz) – 514 Staatsbetriebe werden seit Mittwoch in Polen privatisiert. „Das ist wie Bingo spielen. Da weiß man vorher auch nicht, ob man gewinnt!“ meint eine weißhaarige Polin, die als eine der ersten ihre „Allgemeine Teilnahmebescheinigung“ abholte. Ministerpräsident Józef Oleksy holte am Mittwoch früh ebenfalls persönlich seinen Anteilsschein bei einer Bank ab, um die Polen zum Mitmachen zu motivieren. Genau wie alle anderen auch schob er 20 Zloty über den Tresen – knapp 12 Mark. Oleksy ist überzeugt, daß das Zertifikat in jedem Fall Gewinn abwerfen wird. Er hätte es bereits am ersten Ausgabetag für 36 Zloty (21 Mark) wieder verkaufen können. „Aber“, meint er, „ich warte auf die Aktien.“ Experten gehen schließlich davon aus, daß der Wert der Anteilsscheine innerhalb des nächsten Jahres auf das Fünffache steigt.
Insgesamt sind 28 Millionen Polen berechtigt, sich an der „Massenprivatisierung“ zu beteiligen. Damit läuft nun endlich ein Programm an, das bereits seit 1990 in der Diskussion ist und immer wieder schwere Rückschläge erlitten hatte. Geplant worden ist es von der Regierung unter Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki und Hanna Suchocka. Das Parlament stimmte zwei Jahre später auch zu. Doch die Regierung unter Waldemar Pawlak von der Bauernpartei stoppte das Projekt 1994. Anfang diesen Jahres setzte Regierungschef Oleksy es dann wieder auf die Tagesordnung.
Für die Massenprivatisierung wählte das eigens zu diesem Zweck gegründete Ministerium gut 500 staatliche Unternehmen aus, die in 15 Investmentfonds verwaltet werden. Sie werden von ausländischen Konsortien geleitet, darunter japanische und französische. Jeder erwachsene Polen kann nun einen Anteil kaufen, den er – sobald die Fonds in einem Jahr an der Börse gehandelt werden – gegen Aktien tauschen kann. Wer will, kann den Schein aber auch sofort weiterverkaufen. Mit der Aktion soll den Firmen neues Kapital zufließen, um sie modernisieren und endgültig privatisieren zu können.
Seit Tagen wird vor allem im Fernsehen intensiv für das Programm geworben. Auch in allen Briefkästen liegen kleine Broschüren und Merkzettel. Dennoch stürmt die Bevölkerung keineswegs massenhaft zu den Banken. Hier und da bilden sich zwar Schlangen vor den Schaltern. Das liegt aber an der langsamen Abfertigung und an den alten Pässen. Häufig paßt der Abholstempel nicht mehr auf die letzte Seite, da dort schon ein anderer prangt: die Berechtigung für die Lebensmittelkarten aus den 80er Jahren. Gabriele Lesser
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