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Die Frau, die immer ein Fisch sein wollte

■ Neu im Kino: “Dialogues with Madwomen“ von Allie Light / Die Vernunft des Wahns

Deedee erzählt enthusiastisch von einem gelungenen Weihnachts fest: sie und 25 Freundinnen beschenkten sich gegenseitig und versteckten die Geschenke im festlich dekorierten Zimmer – die kleineren Frauen nahe am Boden, die größeren hoch über ihren Köpfen. Sie beschreibt die Bescherung so realistisch und ernsthaft, daß ihre Gesprächspartnerin nachfragen muß und erst jetzt begreifen wir, daß die junge Frau ganz alleine im Zimmer war und mit ihren 25 abgespaltenen Persönlichkeiten gefeiert hat. Vorher hatte sie von ihren lieblosen Eltern, den Vergewaltigungen durch den Stiefvater und ihre ständige Angst vor Mißhandlungen erzählt, und spätestens nun wird klar, wie vernünftig es für das schutzlose junge Mädchen war, sich in diese vielen anderen Persöhnlichkeiten zu flüchten, die an ihrer Stelle die Demütigungen, Schmerzen und Verletzungen überleben konnten.

Deedee ist eine von sieben Frauen, die in diesem Dokumentarfilm von ihren psychischen Erkrankungen erzählen, und bei allen erweist sich der Wahn als letztlich heilsame Überlebensstrategie. Hannahs extrem euphorische Phasen, in denen sie sich als Bob Dylans rechtmäßige Seelengefährtin sah, Deedees manische Depressionen oder Joe Wongs paranoide Schizophrenie erklären sich als logische Konsequenzen aus den katastrophalen Lebensumständen der Frauen. Karen sagt etwa, ihr sei ihre „Unschuld genommen worden, und zwar in jeder Weise“ und der asiatischen Amerikanerin Wong war es unmöglich, sich gegen den alltäglichen Rassismus zu behaupten und so haßte sie „alle Weißen“.

Mit einer bewundernswerten Offenheit und Klarheit erzählen die sieben Frauen zuerst von diesen tiefen Verletzungen, von ihren Fluchtburgen im Wahn, den oft absurden Therapieversuchen in den Anstalten und schließlich von den Heilungsprozeßen. Und das Ergebniss einer von diesen erfolgreichen Therapien ist dieser Film selbst, denn die Regisseurin Allie Light finden wir vor und hinter der Kamera. Sie selber ist eine von den sieben interviewten Frauen, sie erzählt von ihren Depressionen und präsentiert am Schluß ihren Film als Beweis dafür, welchen Unsinn einer ihrer Therapeuten verzapfte, als er ihr jede Chance auf eine erfolgreiche künstlerische Karriere absprach.

Dadurch, daß sie nicht als Außenstehende, oder gar als Therapierende von diesen Frauen erzählt, war es ihr möglich, diese Einsichten in den Wahn so stimmig und intensiv zu filmen. Man merkt, wieviel Vertrauen die Frauen zu der Regisseurin hatten, und Allie Light folgt in der Inszenierung immer stimmig der Logik der einzelnen Krankheitsverläufe. So zeigt sie nicht nur die sprechenden Köpfe der Gesprächspartnerinnen, sondern sie läßt sie auch in Selbstdarstellungen ihre Symptome nacherleben und sie findet poetische Metaphern, mit denen sie ihre autonomen Seelenwelten darstellt. Da tropft Blut aus einem Schlüsselloch, Hannah tanzt verzückt in einem Schauer aus Blüten und Mairi, die immer schon ein Fisch sein wollte, geht mit einem Köfferchen in die Wellen des Ozeans.

So ist dieser Film, der oft so traurig macht, daß es kaum noch zu ertragen ist, im Grunde doch ermutigend, denn alle sieben Frauen sind ja durch die eigene Stärke wieder zu ihren Sinnen gekommen. Und daß sie im Film so ehrlich und humorvoll über ihren Wahn sprechen können, ist der überzeugenste Beweis ihre Heilung.

Wilfried Hippen

Cinema So. bis Mi. 19 Uhr /Originalfassung mit Untertiteln

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