: Für 1,50 Mark zeigt Abdel Ballgefühl
Besuch in Sialkot, im Nordosten Pakistans: 50.000 Kinder schuften hauptberuflich für die schönste Nebensache der Welt – als Schuldknechte in der Fußbälleproduktion für große Sportartikelfirmen ■ Aus Sialkot Marc Lorenz
„Alles, was ich über Moral und Pflicht weiß, verdanke ich dem Fußball.“ (Albert Camus)
„Der Ball hat keine Seele, der ist leblos.“ (Helmut Schön)
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Jürgen Klinsmann hat unterschrieben, Roberto Baggio hat unterschrieben, und auch Gabriel Batistuta aus Argentinien hat unterschrieben. Alle drei und etliche Fußballer-Kollegen aus aller FIFA-Herren Länder spendeten ihr Autogramm für die sprichwörtlich gute Sache, genauer für den Kampf gegen die Armut in der Welt. Signiert haben die millionenschweren Herren – natürlich – ihr Arbeitsgerät.
130 derart verzierte Lederbälle gehen nach Auftakt in Berlin derzeit auf Deutschlandtournee. Mit ihnen geht ein Appell der Vereinten Nationen, den die Fußballer gleich mit unterzeichnet haben. Appell und Wanderausstellung tragen den Titel „Ein Ziel: Menschliche Entwicklung“. Das würde so ziemlich jeder unterschreiben, aber die Profis, steht zu befürchten, wissen nicht, was sie tun.
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Sialkot, Pakistan. Hierher, in den Nordosten des Landes, an die pakistanisch-indische Grenze, auch das steht zu befürchten, wird die Ausstellung mit den 130 Autogramm-Bällen wohl nie kommen. Dabei gibt es keinen anderen Ort auf der Welt, an dem sie mehr Sinn machen würde. Denn nicht etwa Mailand, Madrid oder München, Sialkot ist die wahre Welthauptstadt des Fußballs. 30 Millionen Bälle werden hier Jahr für Jahr zusammengenäht – 75 Prozent der gesamten Produktion. Alle namhaften Hersteller sind in Sialkot vertreten: Lotto und Mitre, Puma und Derbystar, Reebok und natürlich auch der Marktführer Adidas.
Wer durch die holprigen Straßen Sialkots läuft, kommt am Fußball nicht vorbei. Zwar gibt es kein prächtiges Stadion weit und breit und auch keinen Klub, der es jemals zu Ruhm und sportlicher Ehre gebracht hätte. Dafür aber, weiß man nicht nur beim Hersteller Derbystar, „macht die ganze Stadt Fußbälle – egal, wohin man schaut.“ Tatsächlich wird in fast jeder Baracke, in fast jedem Hinterhof am runden Qualitätsprodukt gearbeitet – und zwar zu einem großen Teil von Kindern.
Kinderarbeit. Gut 50.000 Jungen und Mädchen, schätzt die pakistanische Bounded Labour Liberation Front, schuften im Dienste der schönsten Nebensache der Welt. Für die Kinder ist der Fußball die Hauptsache. Pakistans E-, D- und C-Jugend ist nicht im Trainings-, sondern in einem dezentralen Arbeitslager. Zum Fußballspielen hat sie keine Zeit.
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Nehmen wir Abdel, 13 Jahre alt. Schon seit vier Jahren, erzählt er, muß er in der kleinen Werkstatt arbeiten. Abdel würde lieber zur Schule gehen, aber seine Familie braucht auch sein Geld, um zu überleben. Pakistan, spürt man spätestens dann, steht in der Weltwohlstandsliga auf einem Abstiegsplatz. Pakistan ist nicht Champions League, Pakistan ist Kreisklasse. Ein Blick auf Mohammed, 14 Jahre alt, kann das bestätigen. Seit seinem achten Lebensjahr näht er Fußbälle zusammen – genauso wie seine fünf Geschwister auch. Das, meint er, sei die wichtigste, die einzige Art, Geld zu verdienen.
Abdel, Mohammed und die anderen Kinderarbeiter verdienen 1,40 Mark am Tag. Das ist weniger als ein Fünftel des pakistanischen Mindestlohns für Erwachsene. Kinder sind billig. Und: Kinder sind willig. Von morgens um sieben bis spät in den Abend, wenn es dämmert, schuften sie in unzähligen Klitschen am so unscheinbaren Produkt. Drei Bälle schaffen sie höchstens am Tag. Aber man kann sich hocharbeiten.
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Wenn einer wie Mohammed lange genug dabei ist, lange genug auf Knien oder im Schneidersitz auf bloßem Boden Kunstledersegmente aneinandergefügt hat, dann darf er an die ganz teuren Bälle ran, jene, mit denen Jürgen Klinsmann, Roberto Baggio oder Gabriel Batistuta im Glanz des Flutlichts kicken. Das ist dann die Aufstiegsrunde.
Kinderarbeit. Wer nie zur Schule gegangen ist, wird auch später keine Chance haben, einen qualifizierten Job zu bekommen. Und: Je mehr Söhne und Töchter zu absurden Hungerlöhnen arbeiten, desto mehr Eltern werden dauerhaft arbeitslos. Kinderarbeit ist nicht nur Folge, sondern auch Ursache von Armut. Kinderarbeit schafft neue Kinderarbeit. Mehr noch: Viele der Kinderarbeiter sind sogenannte Schuldknechte, sind moderne Sklaven.
Schuldknechtschaft oder bondage labour ist, wenn Kinder die Schulden ihrer Eltern abarbeiten müssen, oft über Generationen hinweg. Der Transfer der Dritten- Welt-Dimension funktioniert so: Ein Menschenhändler mit großem Auto und feinem Trikot kommt ins Dorf oder in den städtische Slum und gibt den geblendeten Eltern einen – für pakistanische Verhältnisse – horrenden Kredit von, sagen wir, 30 Mark. Dafür allerdings muß er ein Kind mitnehmen, verspricht den Eltern aber, daß dieses Kind eine gute Ausbildung bekommt und einen Teil seines Gehaltes regelmäßig an die Eltern überweist.
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Der Kredit kann nie abgezahlt werden. Viele der Eltern können weder lesen noch schreiben, noch rechnen. Für den Menschenhändler ist das ein einfaches Spiel. Ein einseitiges Spiel. Bezahlen tun vor allem die Kinder – mit kaputter Gesundheit, mit Analphabetismus und mit verpaßter Kindheit. Sie bolzen nicht im Hinterhof, sie schuften sich dort um ihre bescheidenen Möglichkeiten.
Ortswechsel. Frankfurt. Börse. Vorvergangenen Freitag wurden hier erstmals Aktien der Firma Adidas notiert. Für das weltberühmte Unternehmen mit den drei Streifen war das ein großer und wichtiger Schritt. Es geht um Milliarden. Neues Kapital zur Schuldentilgung mußte her. Schließlich war Adidas mit verfehlter Produktpolitik und zu teurer Inlandsproduktion ins Abseits gerannt. Inzwischen hat sich Adidas gefangen. Fußbälle läßt die Firma, die nach eigener Werbeaussage mit den Siegern stets eng verbunden ist, im billigen Ausland herstellen – in Vietnam und in Sialkot, Pakistan.
Die Börsentaktik ging auf, die Anleger standen Schlange. 340 Millionen Aktien hätte Adidas verkaufen können, aber nur ein Zehntel davon wurde angeboten. Die Fünf-Mark-Stammaktie wurde schon am ersten Verkaufstag mit weit über 70 Mark gehandelt. Adidas-Aktien sind so begehrt wie Fußbälle mit den Unterschriften von Klinsmann, Baggio und Batistuta.
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Ein Zehntel aller Bälle weltweit stellt allein Adidas her. Im Laden kosten sie bis zu 170 Mark. Von Kinderarbeit aber will man lange nichts gewußt haben. Zu einem Interview ist man in Herzogenaurach nicht bereit, schon gar nicht jetzt, wo es an der Börse um so viel geht, schon gar nicht jetzt, wo Ruhe erste Unternehmenspflicht ist.
Es gibt ein knappes Fax mit knappen Argumenten. „Adidas fordert von seinen Lieferanten die Einhaltung der bestehenden Landesgesetze. Dazu zählt selbstverständlich die Einhaltung des Verbotes der Kinderarbeit“, heißt es darin. Zudem lägen dem Unternehmen Zertifikate darüber vor, daß in seinen Zulieferbetrieben keine Kinder arbeiten.
Für Barbara Küppers von der Kinderschutzorganisation Terre des hommes macht das Unternehmen es sich damit zu leicht. Ihre Erfahrung zeigt: „Wenn man da gegenseitig Faxe austauscht und sich Papier in die Hand drückt, dann hat das nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun.“ Tatsächlich ist Papier auch in Pakistan geduldig, vielleicht sogar geduldiger als anderswo.
Natürlich ist Kinderarbeit auch in Pakistan verboten, doch auch die vielen Schilder mit der ermahnenden Aufschrift „Keine Nähe unter 18 Jahren!“, wie sie in den Baracken Sialkots hängen, können nichts daran ändern, daß sich niemand daran hält.
Barbara Küppers mißtraut auch dem Argument, Adidas verstärke künftig seine Kontrolle vor Ort. Zur Genüge kennt sie vor allem aus Indiens Teppichindustrie Kontrollen in Vorzeigebetrieben, „die sehr sauber und ordentlich sind, in denen die Leute wahrscheinlich Mindestlöhne bekommen und in denen jeder weiß, was läuft – nur eben die Kontrolleure nicht.“ Bei einem Konzernumsatz von weit über drei Milliarden Mark und einem erwarteten Gewinn von 250 Millionen Mark in diesem Jahr, meint sie, könne Adidas auch Erwachsenenlöhne bezahlen. Terre des hommes rät dem Unternehmen, sich umgehend mit der pakistanischen Kampagne gegen Kinderarbeit in Verbindung zu setzen. Adresse und Telefonnummer wird man gerne weitergeben.
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Wir bleiben in Frankfurt. Deutscher Fußball-Bund. Hier, ist man sich der Verantwortung des Kickens bewußt. Hier fördert man ein Kinderhilfswerk in Mexiko, hier hat man jede Menge Ausländer als Freunde. Hier lief der letzte DFB- Bundestag unter dem Motto „Fußball in unserer Gesellschaft – mehr als ein 1:0“. Hier hat man von fußballzusammennähenden Kindern noch nichts gehört.
Der DFB, der seinen Ausrüstervertrag mit Adidas erst vor wenigen Tagen bis über das Jahr 2000 hinaus verlängert hat, verweist auf die Ballhersteller. Auch der Weltverband hält sich heraus. Die FIFA kümmert sich derweil ums Noch- mehr-Geld-Verdienen: ab Januar 1996 mit einer Art TÜV-Siegel für die Lederkugel. Bis zu 1,50 Schweizer Franken verlangt die FIFA dann für das Gütesiegel, um zu gewährleisten, daß der Ball den „gestiegenen Anforderungen“ auch künftig entspricht.
Auch Adidas und all die anderen Unternehmen im Weltverband der Sportartikelindustrie arbeiten an einem Gütesiegel. Es soll eines Tages kinderarbeitsfreie Fußbälle garantieren. Die Einsetzung einer Kommission ist zwar schon beschlossen, doch zu befürchten ist: Bis es soweit sein wird, können Abdel und Mohammed noch eine ganze Weile ihr Ballgefühl demonstrieren.
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