: Wenn der Schließmuskel versagt
■ Die Bremer Evangelische Kirche packt ein tabuisiertes Thema an: Was kann man gegen Stuhlinkontinenz tun? Ein Facharzt gab Auskunft.
Was hat der „dip“ mit Stuhlinkontinez zu tun, mit den Verschlußstörungen des Afterschließmuskels? Eine Antwort darauf gab gestern die Bremer Evangelische Kirche in der Arztpraxis von Dr. Andreas Oeller.
Der „dip“ ist der neue „Diakonische Pflegeverbund“, der sich in Bremen gebildet hat, um die Angebote evangelisch- diakonischer Hilfsorganisationen und Pflegeeinrichtungen zu bündeln. Daneben will der „dip“ in Kooperation mit der Bremischen Evangelischen Kirche die Öffentlichkeit für bestimmte, mit dem Pflegebereich verbundene Tabuthemen sensibilisieren. Eins davon ist die Stuhlinkontinenz.
„Haben Sie schon einmal Ihren Platz im Kino, im Theater, bei einem Konzert nach der Nähe zur Ausgangstür bestimmt“, fragte Dr. Oeller sein aufmerksames Publikum. Niemand bejahte, obgleich die angesprochene Krankheit keineswegs selten ist: Betroffen ist ein Fünftel von insgesamt etwa vier Millionen BundesbürgerInnen, die, niedrig geschätzt, unter Harn- oder Stuhlinkontinenz leiden. Mindestens ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung leidet unter Stuhlinkontinenz, das sind 800.000 Menschen, zumeist Frauen.
Wie bei der Patientin Maria Pohl (Name von der Red. geändert) liegt die Ursache für die Erkrankung häufig bei schweren Geburten. Wenn der Damm reißt oder geschnitten wird, wird häufig das Schließmuskelgewebe mit beschädigt. Jahre später führte eine Gebärmutteroperation bei Frau Pohl zu einer zusätzlichen Schwächung der Beckenbodenmuskulatur. So begann für die agile Frau der schleichende Weg zu einer fortschreitenden Krankheit, mit der sie sich immer häufiger zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben gezwungen sah.
PatientInnen, die unter Stuhlinkontinenz leiden, gehen nicht mehr aus. Sie verzichten auf den Flug in den Urlaub, sie meiden Veranstaltungen und Feste, geben oft sogar ihre nächsten sozialen Kontakte auf und verlieren zusehends an Selbstvertrauen. Angst und Scham bestimmen das Leben, ohne Mut zum Reden isolieren sie sich schließlich völlig.
Selbst gegenüber den ÄrztInnen wird geschwiegen – ein beidseitiges Schweigen. Dem Tabu der PatientInnen entspricht das in der medizinischen Lehre und Forschung. Dem Stuhlgang wollte sich so recht niemand widmen. Erst in jüngerer Zeit etabliert sich mit der Proktologie eine eigene Fachrichtung für Enddarm-Erkrankungen und treibt die Entwicklung von Diagnostik und Behandlungsmethoden voran.
Trotzdem raten noch heute Mediziner zu Windeln oder zum künstlichen Darmausgang, obgleich letzeres nur in wirklich schweren Fällen notwendig ist. „Was meinen Sie, wieviele Salben durch die Hose verschrieben werden“, kommentiert lakonisch Dr. Roland Kombrink, Mitarbeiter von Oeller. „Da wird nicht einmal untersucht.“ Damit spielt er auf die Flut von Analsalben an, die der Markt gegen Hämorrhoiden bereithält.
Dabei sind Hämorrhoiden keine Krankheit, sondern Bestandteil des Enddarm-Systems. Sie garantieren den sicheren Feinverschluß zur Vermeidung von Nässen und Schmieren. Nur wenn wuchernd führen sie auf Dauer zur Feinkontinenz. In diesem Stadium können Blähungen oder flüssiger Stuhl nicht mehr komplett gehalten werden. Auch jahrelange Verstopfung oder Stoffwechselkrankheiten können diese Symptome hervorrufen. Gründliche Untersuchungen sind in jedem Fall geboten, denn nur der Arzt kann herausfinden, ob es sich möglicherweise um einen Darmvorfall handelt, der mit Analsalben nicht behandelbar ist.
Ignoranz und Fehlbehandlungen können schließlich bei einem durch Altern schwachgewordenen Bindegewebe zur Grobkontinenz führen. Die ringförmig um den Afterkanal laufenden Schließmuskeln versagen teilweise oder ganz ihren Dienst. Das muß nicht sein, denn wie alle Muskeln lassen sich auch die Schließmuskeln trainieren, warnt Dr. Oeller. Die tägliche Beckenbodengymnastik kann ergänzt werden durch den Einsatz von Reizstromgeräten, die leicht zu handhaben sind und von der Krankenkasse zur Verfügung gestellt werden. Die Impulse der Geräte stimulieren auch die inneren Schließmuskeln, deren Reaktion nicht dem menschlichen Willen unterliegt.
Anders die äußeren Schließmuskeln. Selbst bei fortgeschrittener Krankheit lohnt daher das Training. Damit die Motivation bleibt, regelmäßig auf einem Arztstuhl das Zusammenkneifen der Muskeln zu üben, haben sich die Prontologen ein besonders feines Instrument ausgedacht: das Biofeedback. Ein aus der Kinderpsychologie entwickeltes Computerprogramm zeigt nicht nur den vom Patienten produzierten Druck an, es enthält darüberhinaus ein paar Spiele wie „Hau den Lukas“ oder den „Bocksprung“. Dabei muß der Druck über eine visualisierte Hürde hinweg gehalten werden. Nach Auskunft des Arztes wird das Gerät gut angenommen. Allerdings, so Dr. Kombrink, wissen die meisten PatientInnen gar nicht, wohin sie drücken sollen. „Da wird einfach diffus irgendwohin gepreßt.“ Eine Bestätigung mehr dafür, daß Aufklärung dringend Not tut. Dora Hartmann
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