■ PDS-Vizepräsidentschaft: Opportunisten
Demokratische Traditionen werden hierzulande allzugern dem politischen Opportunitätsprinzip untergeordnet. Die Liste der Beispiele ist lang und beschämend: Als die Grünen Anfang der achtziger Jahre ins Bonner Parlament einzogen, wurden sie durch die Altparteienriege von Geheimdienst- und Verfassungsschutzausschüssen ferngehalten. Im vergangenen Jahr weigerte sich das Bundespresseamt, Stefan Heyms Eröffnungsrede als Alterspräsident des Bundestages abzudrucken. Gestern nun brach eine Mehrheit der Berliner Abgeordneten mit einer alten Gepflogenheit aus Westberliner Zeiten und ließ in drei Wahlgängen die PDS-Kandidatin für die Vizepräsidentschaft durchfallen. Und das, obwohl das Anrecht der ungeliebten Partei auf einen der drei Posten unstrittig ist. Man mag von der PDS halten, was man will – ihr zuliebe von bewährten Spielregeln abzurücken, ist nicht nur leichtfertig, sondern auch gefährlich. In einem Land mit langer demokratischer Übung wie in England wäre ein solches Vorgehen wohl kaum denkbar gewesen. Dort weiß man, wie leicht die Aufgabe bewährter Prinzipien das Selbstverständnis eines Parlaments beschädigen kann.
Gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode aber haben sich die Abgeordneten der CDU, eine beachtliche Zahl der SPD und einige wenige Grüne einen schlechten Dienst erwiesen. Ob gewollt oder ungewollt: Der Öffentlichkeit wurde vermittelt, alles sei aufkündbar, wenn es den eigenen Interessen dient. Schon die Überlegung der SPD-Fraktion, nur noch einen Vizepräsidenten zu wählen, war ein allzu durchsichtiger Versuch, der PDS den Vizestuhl wegzuziehen. Die CDU wiederum nutzte den gestrigen Tag dazu, sich als PDS-Scharfmacher zu profilieren. Der SPD hätte es gut angestanden, Landowsky und Co. einen den demokratischen Spielregeln verpflichtetes Abstimmungsverhalten entgegenzusetzen. Das kann immerhin in einer der nächsten Sitzungen nachgeholt werden. Severin Weiland
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