Popcorn und Cola statt Gazoz

Freiluftkinos waren die Attraktion in Istanbul. Die geschlossenen Räume von heute sind nicht so reizvoll: Man darf dort nicht spucken  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Ich habe meine Großmutter geliebt. Sie hat mir die Augen für das Kino geöffnet. An den Sommerwochenenden war ich ein glückliches Istanbuler Kind. Tagsüber gingen wir zum Badestrand im Stadtteil Fenerbahçe: Schwimmen im Marmara-Meer. Doch die eigentliche Attraktion war der Abend. Familien aus dem ganzen Stadtteil standen Schlange vor dem Freilufttheater. Nach dem Kauf der Tickets begab man sich zum Kissenvermieter, damit man auf dem Beton keinen kalten Hintern bekam. Dutzende Verkäufer durchstreiften die Sitzbühnen und schrien: „Frigo, Frigo“ oder „Gazoz, Gazoz“. Das erstere ist eine eisähnliche gefrorene Masse, die mit schlecht schmeckender Schokolade überzogen ist. „Gazoz“ ist mit viel Zucker versüßtes und mit Kohlensäure versetztes Wasser.

Als Ouverture gab es eine türkische Popgruppe. Schließlich gingen die Lichter aus und der Film begann. Türkische Filme Anfang der siebziger Jahre: Reicher Mann liebt arme Frau, es kommt zur Tragödie wegen des sozialen Status, aber dann doch ein Happy-End mit langem Kuß. Wichtiger als der Film war jedoch der Verzehr von Sonnenblumenkernen. Wir Kinder entwickelten schnell das Geschick, die Schale aufzusplitten und den Kern herauszulösen.

Inzwischen haben Bauspekulanten die Freiluftkinos längst abgerissen und Betonwohnklötze errichtet. Statt „Frigo“ gibt es die bekannten Eismarken internationaler Konzerne, statt „Gazoz“ nur noch Cola und Nescafé. Die türkische Popgruppe im Vorprogramm ist von der Automobilwerbung verdrängt worden, die türkische Schnulze im Hauptprogramm von irgendeinem Hollywood-Schinken. Und statt der Sonnenblumenkerne gibt es Popcorn – in geschlossenen Sälen darf man nämlich nicht die Schalen auf den Boden spucken.

Das Kino meiner Kindheit war in den vergangenen 30 Jahren so manch hinterhältigem Angriff ausgesetzt. So hat man diesen Kasten, der sich Fernseher nennt, in Umlauf gebracht. Auf der winzigen Scheibe dieses Gerätes flimmern Filme, die sich die Kinder seitdem – eingesperrt in die elterliche Wohnung – ohne das Sonnenblumenkern-Wettessen ansehen müssen. Dann kamen auch noch Videos auf den Markt. An jeder Straßenecke wurde ein Verleih eröffnet. Während Sexualität in der Gesellschaft tabuisiert war, machten Leute mit Porno-Videos ein Riesengeschäft.

Es gibt sie noch, die aufrechten Kinogänger

Seit es private Fernsehsender in der Türkei gibt, die zwischen den Werbeblöcken jeden Tag Dutzende von Filmen zeigen, sind nun auch die Videoverleiher von den Straßen verschwunden. Doch es gab neue Feinde des Kinos. Jene geschäftigen Unternehmer, die wie so viele Orte dieser Welt auch Istanbul mit kleinen Kinosälen überzogen: steril, sauber und mit Minileinwand.

Aber es gibt sie doch noch, die aufrechten Kinogänger, die Urenkel des rumänischen Juden Sigmund Weinberg, der 1897 die erste öffentliche Kinovorstellung im Saal „Sponeck vis-à-vis Galata Serai“ organisiert hatte. Wie vor fast hundert Jahren ist die „Grande Rue de Pera“, die heute Istiklal Caddesi (Straße der Freiheit) heißt, das Zentrum des Kinos in Istanbul. Hier findet man Kinos wie das „Atlas“ in Galatasaray, wo fast tausend Menschen Platz haben und wo auch die Istanbuler Filmfestspiele ihre Heimat haben. Und es gibt hier immer noch Menschen, die auf den Nescafé schimpfen und richtigen Kaffee verlangen.

Für diese Leute haben zum Beispiel die Manaki-Brüder ihre Filme gemacht. Sie haben das Glück und die Leiden der Menschen auf dem Balkan und in Anatolien dokumentiert. Die Mächtigen und die Herrschenden kommen darin ebenso vor wie die Guerilleros in den makedonischen Bergen. Waren nicht die Manaki-Brüder, über deren ethnische Herkunft Griechen und Makedonier streiten, auch die Urväter des türkischen Films? Kino ist die Erinnerung an Geschichte. Und für mich die Erinnerung an meine verstorbene Großmutter.