■ Vorlauf
: Stillstand des Himmels

„Der Zeitreisende“, 0.05 Uhr, N3

Für den taubstummen Rumänen Milos ist die Ferne ein Ort. Vor 20 Jahren verschwand seine Schwester dorthin und ließ ihn in seinem Dorf zurück. Milos' Nachbarn haben inzwischen gelernt, die eigenwillige Gebärdensprache des alten Mannes zu verstehen. Viele von ihnen sind – wie er – noch nie über die Felder am Ortsrand hinausgekommen. In Gedanken breitet Milos die Arme aus und fliegt zu seiner Schwester Olga – an jenen Ort, der ihm Ferne bedeutet.

Während der Dreharbeiten zu ihrem (mehrfach prämierten) Dokumentarfilm „Joanes Gesetz“ kam den beiden jungen Filmemachern Dobrivoie Kerpénisan und Dominique A. Faix die Idee, Milos' Wunsch nach einem Wiedersehen mit der Schwester auf die Sprünge zu helfen. Im Sommer 1995 machte sich das Trio auf eine Reise mit ungewissem Ausgang. Olgas letzte Postkarten kamen aus New York. 600 Bahnkilometer sind es nach Bukarest, zehn Flugstunden bis zum John-F.-Kennedy-Flughafen. Die gebräuchlichen Koordinaten von Entfernung und Zeit bleiben dem 67jährigen Milos fremd.

Seine Welt kennt keine Zeitzonen. Er weiß nicht, daß der Reisende, der nach Westen fliegt, während sich die Erde nach Osten dreht, die Nacht überspringt. Weil Milos die Geschwindigkeit nicht sehen kann, beschwert er sich im Cockpit über den vermeintlichen Stillstand am Himmel, und nach der Ankunft im Hotel kann ihn weder Fernseh-Action noch der Ausblick auf Manhattans Wolkenkratzer über den unerträglichen Zustand des Wartens hinwegtrösten.

Milos entpuppt sich als ein (Zeit-)Reisender, der mitten in der Zukunft auf der Begegnung mit der Vergangenheit beharrt. Sein überraschend flüchtiges Interesse an dem Spektakel der Megastadt New York macht ihn zum denkbar schwierigsten Protagonisten eines Road-Movie, dessen Geschichte nur er vorantreiben kann. Milos' Begleiter nahmen es als Herausforderung. Statt das rührende Widersehen eines alten Geschwisterpaares in Szene zu setzen, dokumentieren sie mit „Der Zeitreisende“ wundersam ungerührte Blicke auf eine schöne, neue Welt.Martina Stork