Der tschetschenische Wolf läßt sich nicht zähmen

Ein Jahr nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Kaukasusrepublik ist der Krieg allgegenwärtig. Die Hauptstadt Grosny liegt in Trümmern, und vom versprochenen Wiederaufbau ist nichts zu sehen.  ■ Aus Grosny Klaus-Helge Donath

Hastig pinseln zwei ältere Frauen die Parole an den Bauzaun: „Okkupanten und Verräter raus aus Tschetschenien!“ Mehrmals schauen sie sich ängstlich um. Rollt womöglich ein russischer Schützenpanzer an? Sie jagen durch Grosnys Trümmerstraßen, als ginge es an die Front. Obendrauf hocken russische Soldaten, junge Wehrdienstleistende mit bangen Gesichtern und gedungene Söldner. Es ist mitten im Zentrum, einen Steinwurf vom zerstörten Präsidentenpalast entfernt. Vor dem Kino „Jubileinij“ haben sich Demonstranten um die tschetschenische Fahne versammelt und warten auf Strom für die Lautsprecher der geplanten Kundgebung. Jung und Alt sind zusammengekommen, Anhänger des verjagten Präsidenten Dschochar Dudajew. Eine ältere Frau erzählt, Soldaten hätten auf ihre Füsse gezielt, um sie zum Tanzen zu bringen.“ Sie fanden es noch lustig“, sagt sie, mühselig hält sie ihre Tränen zurück. Doch von Kapitulation und Niederlage ist nichts zu spüren.

Ein Jahr nach dem Einmarsch der Russen in die Kaukasusrepublik ist Grosny eine besetzte Stadt. An jeder Straßenecke hat sich das Militär hinter aufgeschichteten Betonblöcken und Geröll verschanzt. Nachts zerreißen MPi-Salven und vereinzeltes Artilleriefeuer die trügerische Stille. Mit Einzug der Dunkelheit kehrt Kleinkrieg in die Ruinenlandschaft zurück. Von Wiederaufbau, wie ihn der Kreml nach Einnahme der Festung Grosny vollmundig versprochen hatte, kann keine Rede sein. Lediglich ein paar Verwaltungsgebäude, in denen sich die neue alte Macht von Moskaus Gnaden eingenistet hat, wurden hergerichtet, andere erhielten einen frischen Anstrich. Deren fade Farbe verrät indes: mehrere müssen daran kräftig verdient haben. Von den hunderttausend Bauarbeitern, die die Arbeit laut Moskauer Angaben längst aufgenommen haben sollten, ist kein einziger zu sehen. Zwei türkische Firmen, die mit herangezogen wurden, haben den Schauplatz längst wieder verlassen. In der Stadt kursiert das Gerücht, nach Morddrohungen und Überfällen hätten sie das Weite gesucht. Verläßlichere Quellen nennen einen anderen Grund: Rußland zahlte nicht wie abgemacht.

Die Bewohner greifen selbst zur Spitzhacke. Ein Trupp von jungen Männern macht sich in den Trümmern eines Cafés schräg gegenüber vom Präsidentenpalast zu schaffen. Ein Bagger hilft, die nackten einsamen Wände einzureißen. „Wir finden jeden Tag noch irgendwelche Geschosse und Waffen“, meint einer. Im Keller des Hauses vermuten sie Leichen. Beim Mittagessen im Restaurant Luna hatte ein Junge wie selbstverständlich gefragt: „Wollt ihr zwei Leichen sehen? Einen Tschetschenen und einen Russen, ist aber kein Fleisch mehr dran!“ Der Abrißtrupp arbeitet auf eigene Rechnung. Wiederverwendbaren Schutt, Ziegel, Eisen und Fensterrahmen karren sie vor die Stadt zu einer Sammelstelle.“ Es läßt sich davon leben“, scheinbar gar nicht mal schlecht. Sie verschaffen sich auf ihre Weise eine Entschädigung. Die Genehmigung mußte bei der provisorischen Verwaltung eingeholt werden.

Tagsüber scheint normales Leben in die Stadt zurückgekehrt. Der Markt ist proppenvoll. Vor ihren ausgebombten Geschäften bieten Besitzer Waren nun auf Tischen feil. Wasser- und Gasleitungen funktionieren wieder in einigen Bezirken. Aber die Menschen – hinter ihren Gesichtern, die Stolz und Fassung wahren, beißt der Zweifel und wächst die Verzweiflung. Der Winter ist da. Tausende hausen in dunklen unbeheizten Kellerlöchern oder Halbruinen. Vertrauen haben sie verloren, vielleicht auf immer. Resigniert winkt Verkäuferin Naina ab: „Ordnung? Wiedergutmachung? Wer sollte das machen?“ Ihr Blick schweift über die abgeplattete Landschaft. Wie schön es hier einmal war ...“ Sie fürchtet, die neuen Herren könnten auch die Eigentumsverhältnisse revidieren. Sie sagt es nicht, aber man spürt es. Sie verachtet sie, weil sie mit den Russen gemeinsame Sache machen.

Unterdessen gibt sich die von Moskau eingesetzte Regierung Mühe, nach außen das Bild einer tatkräftigen Verwaltung zu vermitteln. Im Oktober setzte Moskau den alten Obersten Sowjet der ehemaligen Republik Tschetscheno-Inguschetien wieder ein, um wenigsten formal einer gewissen Legitimät zu genügen. Separatistenführer Dudajew hatte den kommunistischen Sowjet und mit ihm seinen Vorsitzenden, den KP-Funktionär Doku Sawgajew, im September 1991 weggeputscht. Letzten Monat inthroniserte das alte Parlament Sawgajew als Staatsoberhaupt. Doch besitzt der Statthalter des Kreml keine wirkliche Macht. Selbst der Arm des eigentlichen Statthalters, Oleg Lobow, der von Präsident Jelzin als persönlicher Gesandter in den Kaukasus entsandt wurde, reicht kaum über die Stadtgrenze Grosnys hinaus. Auch er führt vornehmlich in den Wänden der Verwaltung Regie.

Auf den Korridoren des Regierungsgebäudes herrscht trotz allem ein Kommen und Gehen. Die meisten sind Bittsteller, es steht in ihren Augen. Verlorene Dokumente müssen ersetzt werden, um überhaupt einen Antrag auf Entschädigung stellen zu können.

Vizepremier Wacha Sawgajew schätzt die Kosten für soziale Kompensationen und Wiederaufbau der Wirtschaft auf 30 Billionen Rubel, umgerechnet zehn Milliarden Mark. Eine fünfköpfige Familie, deren Wohnung zerstört wurde, hätte einen Anspruch auf 50.000 Mark, hinzukommen noch 500 Mark pro Kopf für verlorenes Eigentum. „Von 40.000 Anträgen sind 2.000 bearbeitet, Geld aus dem Föderalbudget kommt erst seit wenigen Wochen“, rechtfertigt sich Sawgajew. Ob die Kompensationen in diesem Umfang geleistet werden, steht auf einem ganz anderen Blatt. Letzte Woche entschied die Staatsduma, aus dem Budget lediglich 500 Milliarden Rubel für die Opfer lockerzumachen. Den Posten für Wiederaufbau strich man völlig. Zwar beteuert das Finanzministerium, Wort zu halten. Doch woher soll das Geld stammen, und wie will man es am Parlament vorbeiziehen?

Bis auf zwei Bezirke im südlichen Bergland halten russische Truppen das Land besetzt. Sie haben Territorium zurückerorbert, aber nicht seine Menschen. In Schali, vierzig Kilometer südöstlich Grosnys, demonstrieren seit Juli täglich Hunderte in der Ortsmitte vorm ehemaligen Lenin- Denkmal. Hinter einem Foto Schamil Bassajews, der im Sommer in Budjonnowsk die spektakuläre Geiselnahme anführte, agitiert der Kommandant der Rebellen, Aslambek Abdulchadschiew, gegen die für den 17. Dezember anberaumten Wahlen: „Keine Urne wird hier aufgestellt, solange russische Truppen da sind.“ Abdulchadschiew steckt in einem Kampfanzug und nennt sich Stellvertreter Bassajews. An der angrenzenden Bretterwand liest man: „Wer mit den Feinden geht, ist ein Feind, wer nicht gegen sie ist – ein Sklave, wer weder dafür noch dagegen ist – ein nichts, nur wer sich lossagt – ist ein Tschetschene“. Zweihundert Meter weiter liegt die Kommandantur der Truppen des russischen Innenministeriums hinter einem Minenfeld. Sie denken gar nicht daran einzugreifen. Im Gegenteil der Vertreter Dudajews begrüßt einen Diensthabenden freundschaftlich, man kennt sich seit Monaten und kommt miteinander aus. Unterdessen tauchen zwei Hubschrauber über der Demonstration im Tiefflug auf. Sie wollen einschüchtern und ziehen Kreise. Fäuste recken sich ihnen entgegen: „Freiheit und Truppenabzug“ skandieren die Teilnehmer. Es sind die regulären Truppen, die eigentlichen Feinde, die sich in der Nähe des Ortes eingegraben haben. Was hier gespielt wird, wer hier die Macht hat? Schwierig zu sagen. Alle Seiten sind vertreten, und doch ist es Niemandsland. Oben in den Bergen in Vedeno sind die Freischärler noch unter sich. Ab und an schicken die Russen ein paar Geschosse zur Erinnerung. Der Widerstand der Rebellen scheint sinnlos, ausrichten können sie nichts mehr. Sie sind erschöpft, am liebsten würden sie wohl ins normale Leben zurückkehren. Nur müßte eine würdevolle Lösung gefunden werden, an der Moskau derzeit kein Interesse zeigt. „Was soll ich machen, zurückkehren kann ich nicht“, meint ein ehemaliger Fernfahrer erst resigniert. Dann packt ihn seine Ehre: „Man kann einen Wolf“, das tschetschenische Wappentier, „in einen Käfig sperren, nur zähmen läßt er sich nicht.“