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Der EDV-gerecht verarbeitete Patient

Ab 1. 1. 1996 sind Ärzte verpflichtet, ihre Diagnosen computercodiert an die Krankenkassen weiterzuleiten. Die Mediziner laufen Sturm gegen die Verletzung der Intimsphäre ihrer Patienten  ■ Von Vera Gaserow

Berlin (taz) – Das Kürzel klingt ganz harmlos. ICD, das könnte der neueste Schnellzug der Deutschen Bundesbahn sein oder ein neues Kreditkartensystem. Tatsächlich aber verbirgt sich hinter den Buchstaben ein gigantischer, hochsensibler Datentransfer. Das Datenmaterial liefern die Betroffenen bei jedem Arztbesuch, allerdings ohne es zu wissen. Zum 1. 1. 1996 nämlich müssen sämtliche Ärzte die Krankheitsdiagnose ihrer PatientInnen EDV-gerecht an die Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen übermitteln. Ein vierstelliger Code soll künftig verraten, ob Frau Müller unter F.15.1 leidet (schädlicher Gebrauch von Koffein, Alkohol oder Tabak) oder Herr Meier wegen eines H.91.2 (idopathischer Hörsturz) in die Arztpraxis kam. Fehlt diese Codierung bei den Angaben der Mediziner, werden die ärztlichen Leistungen von den Kassen nicht mehr bezahlt.

So sieht es eine Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums vor, die zum Jahresbeginn in Kraft treten soll. Doch die Ärzteschaft läuft Sturm. Innerhalb weniger Wochen hat eine bundesweite Ärzteinitiative eine der größten Protestwellen im Gesundheitswesen organisiert. Mehr als 25.000 Ärzte haben ihren Widerstand gegen die computergerechte Durchleuchtung ihrer Patienten angekündigt, das ist immerhin ein gutes Viertel der gesamten Ärzteschaft der Bundesrepublik. Ausnahmsweise richtet sich der Ärzteaufstand einmal nicht gegen eine Beschneidung der eigenen Pfründen, sondern gegen die „Verletzung der Intimsphäre der Patienten“.

Einen „Diagnosekatalog Orwellscher Dimensionen“ nennt die Ärzteinitiative das, was ab 1996 zur Pflichtaufgabe werden soll und was sich auf leisen Sohlen angekündigt hat: Schon das Gesundheisstrukturgesetz von 1993 hatte sämtliche Vertragsärzte verpflichtet, auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Abrechnungen mit der Krankenkasse jeweils eine Diagnose anzugeben. Diese Meldung an die Kassen erfolgte bisher jedoch im Klartext, also als „Blinddarmentzündung“ oder „grippaler Infekt“. Künftig jedoch sollen die Kranheitsbilder nach einem internationalen Schlüsselsystem der Weltgesundheitsorganisation codiert werden – dem ICD-10. Anhand eines 1.300 Seiten dicken Handbuches müssen die Mediziner Codierungszeichen wählen und sie in das EDV-System der Krankenkassen einspeisen.

Ein Code steht für „aufsässiges Verhalten“

Für die Ärzteschaft bedeutet das zunächst einen erheblichen Mehraufwand. Gravierender aber noch: Die vorgegebenen Codes sind grobmaschig und unpraktibel. Sie zwingen zu einer Atomisierung der Patienten und zu Übertreibungen. Ein einfacher Durchfall beispielsweise wird in Ermangelung einer Rubrik zur vierstellig verschlüsselten „Gastroenteritis“. Die gängige Diagnose „grippaler Infekt“ taucht unter den 14.000 Klassifikationen erst gar nicht auf. Dafür enthält der internationale Katalog Krankheitsbilder wie den „Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen“ oder „oppositionelles, aufsässiges Verhalten“.

Wozu die Datensammelleidenschaft gut sein soll, leuchtet den Ärzten bisher nicht ein. „Die Frage, was man genau mit den erhobenen Daten anzufangen gedenke und welche Schlüsse man aus den erhobenen Daten ziehen könne“, so schreibt der Vorsitzende der Vertragsärztlichen Bundesvereinigung, „hat mir bisher noch kein Politiker oder Kassenvertreter beantworten können.“ „Da werden Datenfriedhöfe angelegt, die jede Menge Mißbrauchsmöglichkeiten schaffen“, kritisiert der Regensburger Arzt Hans- Peter Ferstl, Sprecher der Ärzteinitiative gegen den ICD-10.

Mit der Codierung kommt der „gläserne Patient“

Angesichts der Protestwelle von unten schlagen jetzt auch etliche Ärztefunktionäre Alarm: „Aus ethischen und standesrechtlichen Gründen“, so schreibt die Ärztekammer Baden-Württemberg, sei die Ärzteschaft verpflichtet, „der sich abzeichnenden vollständigen Aushöhlung der ärztlichen Schweigepflicht energisch Widerstand zu leisten“. Und selbst die Kassenärztliche Vereinigung Bayern warnt vor dem „gläsernen Patienten in großem Umfang“.

Nach dem ungeahnt massiven Protest hat das Bundesgesundheitsministerium offenbar einen Rückzug auf Raten angetreten. Nach einer Koalitionsrunde in der vergangenen Woche bot Minister Seehofer den Ärztefunktionären einen Kompromiß an: Die Nichtcodierung einer Diagnose solle nicht gleich zum Honorarabzug für Ärzte führen. Das kommende Jahr könne ja als Probelauf für den ICD-10 gelten. Ende 96 könne man dann sehen, ob das Projekt überhaupt Sinn mache. Für die Ärzteinitiative ein fauler Kompromiß: Sie will den Datenzug ICD noch vor dem Start stoppen. Ein Berliner Nervenarzt hat deshalb jetzt die Notbremse gezogen: Stellvertretend für einige tausend KollegInnen legte er Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein.

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