: Sanfte Räumung nicht ausgeschlossen
Fast eine Million Obdachlose leben mittlerweile in Deutschland, rund ein Fünftel von ihnen sind Frauen. Vor allem in den neuen Ländern nimmt die Wohnungslosigkeit mit steigenden Mieten zu ■ Von Annette Rogalla
Gertrude Maier aus Leipzig bewohnte nicht gerade ein luxuriöses Heim. Die beiden Zimmer waren klein, das Klo eine halbe Treppe tiefer, Putz blätterte von den Wänden, die Wasserhähne tropften. „Ein ziemliches Loch.“ Aber erschwinglich. Knapp 30 Mark bezahlte sie vor der Wende. Dann übernahm die städtische Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) das Haus. Die Miete werde billig bleiben, versprach man, wenn sie die Wohnung selbst instand setzen würde. Die angelernte Malerin schmierte Löcher mit Gips aus, tapezierte und strich die Wände. Die LWB forderte 231 Mark Miete.
Das ging der 38jährigen, inzwischen Arbeitslosen, nicht in den Kopf. „Ich schufte in meiner Freizeit, und die sahnen ab.“ Anderthalb Jahre verweigerte Gertrude Maier die Zahlungen. Ihre Mietschulden wuchsen an. „Auf 4.000 Mark oder so.“ Vor vier Monaten flog sie raus aus ihrer Wohnung. Den kleinen Sohn brachte sie zu ihrer Mutter. Sie selbst lebt nun im Obdachlosenheim für Frauen und wartet darauf, daß die Stadt ihr eine neue Wohnung zuweist. Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle hat sie keine.
So wie Gertrude Maier werden immer mehr Frauen wohnungslos. Wie viele es sind, kann niemand genau sagen. Das Statistische Bundesamt zählte für 1994 zwar 481.400 von Jägern geschossene Wildenten. Eine zuverlässige Statistik über die Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, gibt es jedoch nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG), ein Dachverband aller Obdachloseninitiativen, schätzt, daß derzeit 920.000 Menschen keine Wohnung haben. Die Gesellschaft für Innovative Sozialforschung in Bremen geht von etwa 700.000 aus. Vorwiegend in Ostdeutschland verlieren Menschen ihre Wohnungen, und immer häufiger sind es Frauen. Die BAG schätzt, daß derzeit bis zu 184.000 weibliche Obdachlose auf Deutschlands Straßen leben. Besonders alleinstehende Frauen mit Kindern stecken „tief im Dilemma“, beobachtet die Leipziger Sozialarbeiterin Karin Heine. Meist sind es Frauen, denen getürmte Männer den Unterhalt verweigern.
Von Rostock bis Zittau wachsen die Mietschulden. Allein bei der LWB steht fast jeder fünfte Mieter in der Kreide. Die Außenstände haben sich bis heute auf 60 Millionen Mark summiert. „Das geht an unsere Substanz“, sagt Pressesprecherin Barbara Neuhäuser. Die hohen Mietrückstände entsprechen exakt dem Betrag, den die Wohnungsgesellschaft im Etat für notwendige Reparaturen und Modernisierungen vorsieht.
Bei der Dresdener Wohnungsbaugesellschaft Südost sind ein Viertel der Mieter mit den Zahlungen im Rückstand. In Halle mit seinen 300.000 Einwohnern schulden säumige Mieter 15 Millionen Mark. Nur wenige verweigern den Mietzins, weil sie, wie Gertrude Maier, auch nach der Wende „wie bei Erich wohnen wollen“.
Im Schnitt kostet eine Bleibe jetzt das Sechsfache im Vergleich zur DDR-Zeit. In einem einfach sanierten Leipziger Altbau werden mittlerweile Kaltmieten zwischen acht und elf Mark pro Quadratmeter verlangt. Eine Zweizimmerwohnung kostet warm etwa 600 Mark, vor der Wende waren es knapp 100 Mark.
Gerade Mieter im unteren Einkommensbereich können sich das nicht leisten. Aber auch für jene wird es eng, die sich vor einigen Jahren noch mit 5.000 Mark in eine Wohnungsgenossenschaft einkaufen konnten. „Proportional mit dem Anstieg der Mieten steigt auch die Zahl unserer Räumungsklagen“, stellt die kaufmännische Sachgebietsleiterin Katrin Poley von der Vereinigten Leipziger Wohnungsbaugenossenschaft fest. Wer bei ihr zweimal keine Miete zahlt, dem flattert die Mahnung ins Haus, verbunden mit der Aufforderung zu einem Gespräch, bei dem eine Ratenzahlung vereinbart werden soll. Wer das freundliche Angebot ausschlägt, erhält Post vom Rechtsanwalt. Die Räumungsklage wird beantragt.
Für die Vermieter beginnt eine langwierige und teure Prozedur. Allein das Klageverfahren kostet im Schnitt 5.000 Mark. Darin enthalten sind Honorare für Rechtsanwälte und Gerichtsvollzieher und für das Einlagern der Möbel. Noch sind die Gerichte im Osten völlig überfordert mit dem Eintreiben von Mietschulden. Aber, sie holen auf. Klaus Hinze, Leiter des Leipziger Wohnungsamts, registriert, daß im Vergleich zu 1994 die Zahl der Räumungsklagen um 112 Prozent zugenommen hat.
Allein die LWB hat in diesem Jahr 300 solcher Räumungsverfahren in Leipzig eingeleitet. Vielfach ein aussichtsloses Unterfangen. „Eine Klage kostet viel Zeit, viel Geld und bringt uns keinen Pfennig ein“, sagt Pressesprecherin Barbara Neuhäuser. Deswegen schickt auch die LWB ihren säumigen Mietern lieber einen Sozialarbeiter ins Haus, der die Wege zur Schuldnerberatung, zum Sozial- und Wohngeldamt nennt – und notfalls mitgeht. Sozialarbeiterin Heine von der Wohnungsgenossenschaft Unitas achtet „strengstens“ darauf, daß ausgearbeitete Entschuldungsprogramme eingehalten werden. Wer nicht spurt, erhält die Wohnungskündigung.
Nicht die pure Nächstenliebe läßt Vermieter vor der schnellen Kündigungsklage zurückschrecken. In Ostdeutschland haben die Kommunen dank einer Sonderregelung das Recht, Wohnungen „für Menschen in Not“ zu requirieren. Das Wohnungsamt Leipzig beschlagnahmte im vergangenen Jahr 26 Wohnungen. Von den 268.421 Wohnungen der Stadt sind 102.022 einkommensschwachen Mietern vorbehalten. Dennoch sieht Wohnungsamtsleiter Hinze „katastrophalen Zeiten entgegen“. Ein Blick in seine Statistik genügt. Im ersten Halbjahr 1994 zählte er noch 2.000 „von Obdachlosigkeit bedrohte Haushalte“, ein Jahr später waren es bereits 2.730.
Viele Ostdeutsche scheuen sich, staatliche Hilfen wie Wohngeld oder Sozialhilfe zu beantragen, selbst wenn das Wohnungsamt sie direkt anbietet. Allein in diesem Jahr hat Wolfgang Leuze vom Leipziger Wohnungsamt 500 Mieter angeschrieben, denen eine Räumung ins Haus steht. Nicht einmal jeder dritte kam zur Beratung.
Leipzigs Politiker proklamieren in ihrem wohnungspolitischen Konzept: „Obdachlosigkeit muß verhindert werden.“ Doch das kostet Geld. Im laufenden Jahr hat das Wohnungsamt Mietschulden in Höhe von 1,35 Millionen Mark übernommen, ein Drittel mehr als 1994. Amtsleiter Hinze bemüht sich zur Zeit, eine Task force für Problemmieter zu installieren. Sozialarbeiter, Mieterberater und verschiedene Behörden sollen den schnellen Draht zu ihm suchen. Schon jetzt melden Vermieter von sich aus dem Amt säumige Kunden. „Wir gehen jedem Hinweis nach, besuchen die Leute und überprüfen die Lage.“ Statt Straßensozialarbeit boomt in Leipzig die aufsuchende Mieterberatung.
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