■ Schlagloch: Brasilianisches Weihnachtsoratorium Von Mathias Greffrath
Wer hat diesen schönen Park gebaut? Der König. Und wer genießt ihn? Ich. (Denis Diderot,
Artikel „Genuß“ der Encyclopédie)
„Ach, wir brauch'n viel tausend Jahr, bis die Zeit erfüllet war ...“ Ein klarer Knabensopran schwebt über dem staubigen Grün des Ibirapuera-Parks in São Paulo. 30 Grad, auf dem Rasen sonntägliche Paulistas, der Windsbacher Chor singt Weihnachtslieder. Hoch oben schwebt jubelnd das große blaue Logo: VW do Brasil. Das Goethe-Institut organisiert, unentgeltlich, und der Glanz der Bachschen Trompeten fällt auf die deutsche Automobilindustrie.
„Wir werden stärker, aber wir verlieren an Raum.“ Vicentinho, der Mercedes-Arbeiter und Führer des brasilianischen Gewerkschaftsbundes CUT, versucht kaum, seine Sorgen zu verbergen. Im Sommer ging der Streik der Petroleiros verloren. Die Regierung hatte es geschafft, die Angestellten der staatlichen Mineralölgesellschaft als geldgierige Schmarotzer hinzustellen und damit vom Kern abzulenken: dem Kampf gegen die Privatisierung um jeden Preis, den Verkauf von Erzlagern, Telefonnetzen und selbstrentablen Stahlwerken. Die Gewerkschaft wiederum hatte keinen Vorschlag, wie der ineffiziente Pfründenbetrieb rentabel und kontrollierbar zu machen wäre. Seitdem kommt Cardosos Privatisierungsprojekt ohne nennenswerten Widerstand voran.
Die Gewerkschaften gehen rückwärts. Was nützt der Aufbau von Betriebsräten, wenn Daimler, VW und all die anderen immer weiter ins Innere des Landes ziehen, wo die Arbeiter billiger und willfähriger sind? Wenn sie – dem Zwang des Weltmarkts folgend – immer weiter rationalisieren?
„Jauchzet, frohlocket!“ Wieder jubeln die Windsbacher Knaben, diesmal in der Einkaufsmeile von Curitiba, der Hauptstadt des Bundesstaates Parana. Zu Weihnachten hat die Verwaltung der Millionenstadt ein paar Konzerte spendiert, diese Woche das Bach-Oratorium, nächste Woche den Messias. „Im alten England saßen die Reichen in den Kirchen und hörten Händel zu, das Volk mußte draußen bleiben.“ So säuselt Präfekt Greca in feinstem Patriarchendiskant, während er Panetone an vorbildliche Straßenkehrer und soziale Damen verteilt. „Bei uns können alle Händel hören.“
Das Volk bleibt fern. Auf dem Balkon des Braz-Hotels sitzen die Honoratioren, unten donnert der Baß „Herrscher des Himmels“, der Kellner bringt Caipirinhas. Aber irgend etwas fehlt.
Sehnsucht nach Europa sei nicht sonderlich originell, lachen die brasilianischen Freunde. Hier blickten alle nach Europa. Jeder hat seins. Die Besitzenden nennen ihre bewehrten Wohntürme „Maison de Blois“ oder „Ca d'Oro“; Vicentinho kommen die Tränen, wenn er an die deutschen Dörfer denkt: „So reich und so sauber.“ Europa – das kommt mir hier vor wie ein Synonym für öffentlichen Reichtum. Immer wieder wurde dort privater Genuß in öffentlichen verwandelt. Die bürgerliche Revolution verteilte Herrenland an Knechte und öffnete die Parks der Fürsten, machte Paläste zu Museen. Später entstand, unter der Drohung der sozialistischen Bewegung, die Bismarck-Lassallesche Kompromißkultur: öffentliche Bäder, Volksbühnen, sozialer Wohnungsbau, Arbeitsrecht und Galerien. Fast alles, was an Europa schön und dauerhaft ist, kommt aus dem feudalen Erbe oder verdankt sich der Arbeiterbewegung und kommunalem Wohlstand. „Gut, gut“, sagt die brasilianische Freundin, „aber was interessiert euch eigentlich an uns – heute?“
Vielleicht ist Brasilien wieder einmal ein „Land der Zukunft“, einer Zukunft, für die es noch keinen Namen gibt: eine hochkonzentrierte, global operierende Wirtschaft, die Städten und Arbeitern die Bedingungen diktiert; ein schwacher Staat, medial gesteuert von ein paar mächtigen Satellitenfürsten. Ein Gemeinwesen, das öffentlichen Reichtum nicht kennt, in dem Kultur, Bildung, Gemeinschaftsaufgaben dem Profitmechanismus unterliegen: Schule, Kinderbetreuung, Kommunikation, Verkehr.
Der wilde Kapitalismus, der Brasilien jetzt ergreift, verträgt sich mit dem Weiterleben patriarchalischer Verhältnisse und krasser Ungleichheit. Brasilien geht vom feudal-autoritären direkt zum postmodernen Staat der Globalwirtschaft über.
Vielleicht täte ja auf der anderen Seite des Atlantik etwas Angst vor der „brasilianischen Zukunft“ gut. Der Streik in Frankreich erinnert fatal an den der brasilianischen Petroleiros: Ein Nein zur Verschlechterung und keine eigene Zukunftsidee. Die Pariser Demonstrationen, schreibt die Korrespondentin des Jornal do Brasil, kämen ihr vor wie der „Trauermarsch zum Tod einer Gesellschaft, die zu Ende geht“.
Unten spielt die Sinfonietta, der Kellner bringt neue Caipirinhas auf den Balkon, und wir fragen uns, wie schlecht es kommen muß, damit Lehrer nicht nur für ihr Gehalt, sondern – wie in Brasilien – für die Idee der öffentlichen Bildung auf die Straße gehen. Die Metrofahrer für die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs?
Müßte der Kampf gegen die Folgen der Globalisierung – den magersüchtigen Staat und die Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse – nicht als einer um historisch erarbeitete Rechte geführt werden? Weil Politik als solche – der Prozeß öffentlicher Willensbildung aller Bürger – zu verschwinden droht, eingeklemmt zwischen Ökonomismus und allerlei neuen Priestern: In Brasilien Honoratioren, die Spiele statt Brot geben, und Fernsehfundamentalisten; bei uns Verzichtsmoralisten und Kommunitaristen. Man müsse, sagt deren Papst Etzioni, „Reiche und Arme dazu bringen, sich als Angehörige derselben Gemeinschaft zu begreifen“. Die Reichen könnten sich doch, da sie schon alles haben, nun geistigen Dingen zuwenden. „Schönheit und Musik und Poesie lassen sich sehr leicht unter vielen Menschen teilen.“
Mal abgesehen davon, daß es eher um mehr Schulen, Felder und Eisenbahnen geht und nicht um die wunderbare Vermehrung von Schönheit, Moral und Sinn; und auch abgesehen davon, daß der Verzicht der Reichen nichts an dem Mechanismus ändert, der Mercedes do Brasil und Nestlé nicht anders ticken lassen kann: Nach Lage der Dinge fallen Schönheit und Musik unter die neue EU- Verordnung, die das Verleihen von CDs verbietet, oder dienen dem höheren Glanz von Präfekt Greca oder VW do Brasil. Das läßt sie nicht unverändert.
Das Weihnachtsoratorium in Curitibas Zentrum schmetterte sich dem Ende entgegen. Und so erhoben wir die sechste Caipirinha und resümierten die Botschaft: „Der ökonomischen Globalisierung aller Verhältnisse muß man eine globale Idee vom öffentlichen Reichtum entgegenstellen. Die Arbeit der Geschichte gehört allen.“ Wie immer waren wir uns einig. Wie bei allen Gesprächen über Globalisierung – und sie globalisieren sich – waren wir besorgt. Aber wo, bitte, ist der Ausweg – bei dieser Nachrichtenlage? Da stiegen die Knabensoprane auf. „Jauchzet, frohlocket! Lasset das Klagen, verbannet die Plagen ...“ Jede Geschichte hat ihre Zugabe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen