Die Streikfront bröckelt

Eisenbahner in der französischen Hauptstadt nehmen ihre Arbeit wieder auf und feiern ihren Sieg. Der Sanierungsplan für die Bahn wurde eingefroren  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der Brief ist noch keine Nacht alt. „Tuttifax“ hat jemand handschriftlich darauf notiert – und ihn per Fax an die streikenden Eisenbahner Frankreichs geschickt. Um acht Uhr am Morgen danach versenken jetzt die Männer in dem Pariser Lokomotiv-Depot La Villette ihre Köpfe in Kopien des zweiseitigen Schreiben. Wie jeden Morgen seit Streikbeginn haben sie sich in der Werkshalle versammelt – zwischen der Zezette, der ältesten Dampflok Frankreichs, und den neuen Elektrodieselloks, die bis zu 160 Stundenkilometer schaffen. „So etwas kommt nicht alle Tage vor“, sagt Patrice, ihr Delegierter, zu dem Ministerbrief. „Wir haben eine Menge erreicht.“

„Der Sanierungsplan für die SNCF ist eingefroren“, hat Transportminister Bernard Pons an die Eisenbahner geschrieben. In den kommenden drei bis vier Monaten solle ein neuer Plan ausgearbeitet werden. Dabei wünsche er, die Gewerkschaften „regelmäßig zu treffen“.

Auf diese schriftliche Garantie haben die Eisenbahner gewartet. Die Eingangsforderungen ihres Streiks sind damit erfüllt: Das Rentenalter bleibt bei 50 bis 55 Jahren, die Anwartszeit bei 37,5 Jahren und die Rentenhöhe bemißt sich auch künftig nach dem Einkommen der letzten sechs Monate. Die bereits begonnene Teilprivatisierung wird bis zu einem neuen Plan eingefroren. Der Sozialfonds des Unternehmens mit 700 Arbeitsplätzen bleibt bestehen. Und Anfang nächsten Jahres beginnt eine neue Lohnrunde.

Wozu der Minister schweigt, das ist der „Plan Juppé“ – der Sparplan für die Sozialversicherung –, der erst im Laufe der dreiwöchigen Bewegung in den Vordergrund gerückt ist. Die Eisenbahner, die am 23. November als erste in den Streik getreten waren, hatten gehofft, daß sich ihnen bald weite Teile des öffentlichen Dienstes anschließen würden – gefolgt von der Privatwirtschaft –, um das große Reformpaket der Regierung zu kippen. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen, auch wenn die Eisenbahner von großer Sympathie getragen wurden.

„Wir müssen wachsam bleiben“, sagt ein Lokführer in der morgendlichen Vollversammlung in dem Depot La Villette. Der Delegierte der kommunistischen CGT, die stärkste Gewerkschaft in diesem Depot, schlägt ein Ende des Streiks vor. Ein zweiter Redner unterstützt ihn. Bis vor wenigen Tagen war er Mitglied der sozialistischen CFDT – aus Protest gegen seine Gewerkschaftschefin, die öffentlich den Juppé-Plan unterstützte, trat er aus. Jetzt stellt er sich mit dem Phantasiekürzel „FGTE“ vor seine Kollegen und erklärt, daß die letzten drei Streiktage die besten gewesen seien. Jetzt gebe es endlich eine schriftliche Garantie, und man könne von „Sieg“ sprechen. Die Männer, von denen viele an diesem Freitag morgen schon wieder den Blaumann tragen, lachen und klatschen. Dann beschließen sie per Handheben das Ende ihres Arbeitskampfes. Nur ein Mann ist dagegen – ihn ärgert, daß die Regierung nicht das gesamte Defizit der SNCF übernehmen will.

Seit ein paar Tagen schon war die Stimmung unsicherer geworden. Einzelne Streikende waren ausgestiegen – als erste die Anhänger der „Autonomen Gewerkschaften“, dann die von der CFDT. Die SNCF hatte die Abbröckelungserscheinungen ausgenutzt, und am Donnerstag morgen drei mit Führungskräften bemannte Loks losgeschickt. Im letzten Moment stellten sich die Streikenden davor auf die Schienen. Zum Weiterstreiken entschlossen waren nur noch die Lokführer – die Spitzenverdiener der Branche. Sie waren es auch, die fast allnächtlich Streikwache gestanden hatten. „Die Arbeiter in den Werkstätten verdienen weniger“, erklärt Roland, der seinen Allzweckschlüssel schon wieder an das Revers seines Blaumanns gesteckt hat, „wir konnten nicht länger durchhalten.“

Streiktage sind unbezahlt. Grundsätzlich. Aber obwohl die Eisenbahner fast einen Monatslohn verloren haben, spricht niemand im Depot La Villette über Geld. Die Lohnausfälle sollen über ein paar Monate verteilt werden – damit es nicht so hart ist.

Voller Respekt reden die Kollegen hingegen über die Eisenbahner im Süden Frankreichs, die gestern für eine Fortsetzung ihres Kampfes gestimmt haben. „Die sind mutiger als wir“, sagt einer. „Wir sind mit ihnen solidarisch“, versichert ein anderer.