Sanssouci: Vorschlag
■ Der Alptraum vom Fest der Liebe: „Weihnachten bei Ivanovs“
Warten auf Weihnachten. Am nächsten Tag soll er aufgestellt werden, der Stagenbaum, Tannenbaum, Tantenbaum oder wie er sonst heißt. Eine großbürgerliche, russische Familie bereitet das Fest vor. Wie aus einem Roman von Dostojewski oder Tolstoi, aber trotzdem pure Perversion. Einen Namen hat sie nicht, diese Familie, sondern gleich sechs. Und die Kinder, die sich schweinigelnd in der Badewanne für den großen Tag abschrubben, sind uralt. Alles ist aus dem Lot bei Aleksandr Vvdenskij, neben Daniil Charms bekanntestes Mitglied der legendären Künstlergruppe Oberiu, die Ende der zwanziger Jahre die Logik auf den Kopf stellte. Ihre abstruse Weltsicht büßten viele mit dem Tod in Stalins Gulags, aber das ist eine andere Geschichte. Diese hier ist auch blutrünstig, aber nur im Spiel. Eines der Wannenkinder, das 32jährige Mädchen Sonja, kündigt an, daß sie am nächsten Tag „allen alles zeigen“ will. Die unteren Teile ihres Körpers meint sie damit. Und deswegen hackt ihr das Kindermädchen den Kopf ab. Ein früher Tod in diesem makabren Weihnachtsmärchen, aber nicht der einzige. Und auch kein endgültiger. Denn der Kopf redet später noch mit dem Körper.
Im Maxim Gorki Theater sind diese häßlichen, philosophischen Kindsgeschöpfe große Handpuppen, wie auch die Hunde, die sich am Schluß über die Leichen hermachen, als der Christbaum endlich steht, wenn sich alle freuen sollen und doch alle sterben. Geführt werden die Stoffwesen von schwarz vermummten Gestalten, Puppenspiel-Studenten der Ernst-Busch-Schule. Von diesem Institut kommt auch (fast) der ganze Rest des Ensembles, einschließlich der beiden Regisseure. Was Tom Kühnel, Robert Schuster und ihre MitstreiterInnen bei dieser zweiten Koproduktion mit dem Gorki zustandegebracht haben, ist ein bös-trauriges, abstrus-komisches Weihnachtswunder.
Die Bühne sieht aus wie ein Adventskalender. Haben sich die Kästchen erst einmal geöffnet, geben sie den Blick auf winzige Räume frei, die über- und nebeneinander alle Spielorte der Geschichte zeigen. Vom bürgerlichen Wohnzimmer über den kitschig verschneiten Wald bis zum Gerichtssaal, wo erst zwei Richter sterben, bevor der dritte die Mörder-Amme schließlich wegen irgend etwas anderem verurteilt. Die Logik ist aus der Welt verschwunden, die Dinge passieren einfach, mit der Zwangsläufigkeit eines Kinder-Alptraumes. Dieses Menschen-Puppenspiel ist der schönste, der grausigste, der poetischste Beitrag zum Fest der Feste. Nicht nur für Weihnachtsverächter und nicht nur zur Weihnachtszeit. Gerd Hartmann
„Weihnachten bei Ivanovs“ von Aleksandr Vvedenskij, nächste Vorstellungen: 20.–22. 12., 26. 12., 20 Uhr, Studiobühne des Maxim Gorki Theaters, Am Festungsgraben 2, Mitte
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