: Vergiß die Peitsche nicht
Was hat Michel Foucault in den Schwulenbars von San Francisco gelernt? James Millers indiskrete Biographie liest das Werk des Philosophen im Lichte seines Sadomasochismus neu ■ Von Dieter Thomä
Drei Männer fahren durch die Mojave-Wüste. Die Sonne geht unter, der Boden leuchtet in allen Regenbogenfarben. Als es Nacht wird in Death Valley, parken sie am Zabriskie Point. Nach einem kurzen Spaziergang auf einem menschenleeren Pfad bleibt einer der drei stehen; er hält drei LSD- Kapseln in der Hand. Die eine nimmt er selbst, die zweite schluckt sein Freund, die dritte nimmt, nach einigem Zögern, der Gast aus Frankreich, Michel Foucault.
Zwei Stunden später sitzen sie wieder im Auto, im Kassettenrecorder läuft Musik von Karlheinz Stockhausen. Foucault starrt ins Leere, zeigt auf die Sterne und sagt: „Der Himmel ist explodiert, und die Sterne regnen auf mich hinab. Ich weiß, daß das nicht wahr ist, aber es ist die Wahrheit. Ich kann diese Erfahrung in meinem Leben nur mit der vergleichen, mit einem Unbekannten zu schlafen. Kontakt mit einem fremden Körper vermittelt eine ähnliche Erfahrung der Wahrheit wie die, welche ich gerade habe.“ Die Zeit vergeht. Die drei Männer rücken enger zusammen, als ein kräftiger und kühler Wind über die Felsen zieht. Schließlich spricht Foucault wieder, und Tränen fließen über seine Wangen: „Ich bin sehr glücklich.“
Jetzt wissen wir also, wie es war, damals im Winter 1975/76, als sich Foucaults Leben änderte. Wer erzählt es uns? Der Biograph James Miller in seinem neuen, gut 700 Seiten dicken Buch „Die Leidenschaft des Michel Foucault“, das in den Vereinigten Staaten ziemlich begeistert und in Frankreich ziemlich eisig aufgenommen worden ist. Und warum erzählt Miller uns jene Geschichte? Jedenfalls nicht zu dem Zweck – obwohl man dies bei seiner Schreibweise manchmal vermuten könnte –, sich als Autor von Groschenheften zu empfehlen. Miller hat eine Botschaft. Jene wüste Erfahrung damals, als Foucault „vollgedröhnt mit LSD auf einem Felsenvorsprung“ hockte, war nach Miller nicht nur eine kalifornische Episode im Leben eines französischen Philosophen, sondern drastisches Zeichen der neuen, letzten Wendung seines Denkens, knapp ein Jahrzehnt vor seinem Aids-Tod im Jahr 1984.
Man kennt Foucault als Analytiker von Machtstrukturen, als Historiker der Sexualität, als Propagandisten der „Lebenskunst“. James Miller läßt nun Foucaults Leben und Denken einmünden in nur zwei Begriffe: Gewalt und Tod. „Die Crux, das Originelle und Herausfordernde am Foucaultschen Denken besteht in seinem unerbittlichen, zutiefst zweideutigen sowie problematischen Verhältnis zum Tod, das ich nicht nur in seinem schriftlichen Ausdruck verfolgt habe, sondern auch – kritisch, wie ich hoffe – in seiner esoterischen Ausprägung als sadomasochistische Erotik.“
Foucaults Besuch in Kalifornien brachte ihn in Berührung mit der Schwulenszene in San Francisco. Wie in den Drogen, so entdeckte er im „S/M“ die „Verwirklichung neuer Genußmöglichkeiten“: „Ich glaube“, so erklärte Foucault 1978, „daß es von politischer Bedeutung ist, daß Sexualität so funktionieren kann, wie sie in Badehäusern funktioniert. Dort trifft man auf Männer, für die du das Gleiche bist, wie sie für dich sind: nichts als ein Körper, der verschiedene Kombinationen und Herbeiführungen von Lust möglich macht. Du hörst damit auf, der Gefangene des eigenen Gesichts, deiner eigenen Vergangenheit, der eigenen Identität zu sein.“
Ausnahmesituationen haben immer etwas mit Tod zu tun (Heinrich von Kleist: „Laß uns etwas Gutes tun, und dabei sterben“) – also auch die Lust, die Lust am Grausamen sowieso. James Miller deutet Foucaults Suche nach Extremerfahrungen gar als heimliche Leidenschaft für den Tod, den er sich „am Ende seines Lebens vielleicht selbst gewünscht“ habe. Damit gerät Foucaults tödliche Krankheit in eine irritierende Umgebung: Erst spekuliert Miller darüber, ob Foucault in seiner Todessehnsucht andere vorsätzlich angesteckt haben mag, dann dementiert er diese Spekulation, um den Tod des Denkers als geradezu wunschgemäßes Ende eines extremen, gewaltsamen Lebens erscheinen zu lassen. Den Exzessen des Denkens folgen exzessive Deutungen seines Biographen. Miller erzählt mehr Details über Foucaults Leben in San Francisco, über das, was man gewöhnlich Privatsphäre nennt, als bisher an anderer Stelle zu lesen war, schöpft dabei freilich aus Quellen, deren Verläßlichkeit nicht immer überprüfbar ist. Bei Biographen ist Indiskretion durchaus kein Laster, sondern eine Tugend. Mit den heißen Thesen über Tod und Gewalt, die Miller in den Kopf steigen, wenn er den Blick vom Schlüsselloch abwendet, will er freilich nicht nur Neugierde befriedigen, sondern ein Deutungsmuster liefern für ein Lebenswerk, das zu den wichtigsten dieses Jahrhunderts zählt. Spuren der Gewalt- sehnsucht meint Miller überall in Foucaults Leben und Werk zu entdecken: Er beruft sich auf Kindheitserfahrungen, die ihm freilich nur in literarischer Verarbeitung aus Texten von Foucaults Freund Hervé Guibert zugänglich sind; er verweist auf die – genüßliche? – Schilderung einer Hinrichtung in dem Buch „Überwachen und Strafen“, zitiert Foucaults Spekulationen über den Selbstmord als „Erfüllung der Existenz“, stützt sich auf dessen Schilderung der de Sadeschen „Mörderburg“ in „Wahnsinn und Gesellschaft“ und auf dessen Neigung zu Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“. Foucaults Politisierung schließlich beschreibt Miller anhand der Parole „Soyez cruels“ (Seid grausam), die während der Pariser Studentenrevolte Furore machte; befolgt hat Foucault diese Parole – wenn man Millers Gewährsleuten glauben darf – am 24. Januar 1969, als er „munter Steine warf – obwohl er sehr darauf achtete, daß sein wundervoller Samtanzug nicht schmutzig wurde“.
Es gibt einen endlosen Streit darüber, wie Biographen Leben und Werk, Person und Position in Beziehung setzen sollen. Foucault selbst hat den Streit um die „richtige“ Biographie durch seine berühmte These vom Verschwinden des „Autors“ angefeuert. Demnach sind Texte Botschaften ohne Absender, Dokumente von Konflikten, die sich verwandeln, ohne daß sich hinter ihnen ein strahlender Held als geistiger Schöpfer versteckte. Miller kümmert sich um diese Auflösung des biographischen Subjekts wenig. Ganz bestimmte Fakten – manchmal auch nur schlichte Vermutungen – dienen ihm dazu, ganz bestimmte Thesen aufzustellen über geheime Beweggründe und letzte Ziele eines Menschen. Das macht sein Buch angreifbar.
Interne Logik oder befreiendes Erlebnis?
Den Angriff hat jemand durchgeführt, der dafür besonders geeignet scheint: Millers Konkurrent Didier Eribon. Er hat seiner eigenen Biographie („Michel Foucault“, Suhrkamp 1991) als eine Art Nachschrift das Buch „Michel Foucault et ses contemporains“ folgen lassen. Neben Essays über die Beziehung Foucaults zu anderen Denkern, unter anderem auch einer höchst lesenswerten Beschreibung des Zusammentreffens von Foucault und Habermas 1983, das entgegen verbreiteten Vermutungen völlig verunglückt war, enthält Eribons Buch eine ausführliche, scharfe Kritik an Millers Buch. Eribon rügt – zu Recht – sachliche Fehler und resümiert: „Niemand hat Millers Interpretation vorgeworfen, sie sei nicht kohärent. Sie ist es nur zu sehr. Die Kohärenz einer Interpretation und ihre zirkelhafte Selbstrechtfertigung beweisen aber noch lange nicht ihre Richtigkeit.“ Eribon plädiert dafür, Foucaults Werk nicht einem einzigen Ziel zu unterwerfen und sich an dessen Geschichte in ihrer „Kontingenz und Wirklichkeit“ zu halten; hierzu sei zuallererst die Sicherung der „Fakten“ erforderlich.
Es ist ebenso überraschend wie erfreulich, daß sich Eribon als Gefolgsmann Foucaults einfach auf „Fakten“ beruft. Damit hat er freilich noch nicht automatisch gegen Miller gewonnen. Zur Entscheidung gelangt der Biographen-streit gerade auch an jenem berühmten Wende-Jahr 1976, als Foucault die gerade begonnene „Geschichte der Sexualität“ nach dem ersten veröffentlichten Band abbrach; erst 1984, in seinem Todesjahr, sollte er sie mit zwei weiteren Bänden über den „Gebrauch der Lüste“ und die „Sorge um sich“ fortführen. Jene Wende wird gewöhnlich als Abkehr von der frühen Machttheorie, in der anonyme „Bio-Techniken“ am Werk sind, und als Hinwendung zur „Subjektivierung“, zur „Stilisierung“ der eigenen Existenz verstanden.
Miller erklärt diesen Wandel an Foucaults Erfahrungen in San Francisco. Eribon dagegen führt ihn zurück auf die „interne Logik“ von Foucaults Forschungen sowie auf die politischen und intellektuellen Umbrüche nach dem Zusammenbruch der radikalen linken Bewegung in Frankreich – und er sagt: „Der Gegensatz, um den es hier geht, ist nicht der zwischen einer ,Interpretation‘ und den ,Fakten‘. Es geht vielmehr um die Auswahl derjenigen Fakten, die zur Begründung einer Interpretation von Bedeutung sind.“
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Eribons Verzicht darauf, die „kalifornischen“ Fakten als Motiv des Wandels ernst zu nehmen, auf eine falsche Scheu zurückgehen. Umgekehrt ist Miller freilich nicht schon auf der Siegerseite, wenn er alles auf sie zurückführt. Damit verfällt er im Grunde auf einen altmarxistischen Rückschluß von Leben auf Werk, Sein auf Bewußtsein. Jene Erfahrungen in Amerika konnten für Foucaults Werk nur wichtig werden, weil er selbst von der Theorie her „reif“ dafür war. Diese Theorie aber ist in dem Seelenhaushalt, mit dem Miller Foucault ausstattet, nur das Aschenputtel und hat bei den Stiefschwestern Tod und Gewalt einen schweren Stand. Obwohl die beiden Biographen Eribon und Miller sich zueinander verhalten wie Feuer und Wasser, muß man sich doch an beide halten, wenn das Bild Foucaults Konturen gewinnen soll. Manchmal ist es geradezu rührend, wie Miller sich bei Exkursen über den intellektuellen Kontext Foucaults abmüht; unfreiwillig komisch ist sein stolzer Hinweis im Nachwort, er habe jahrelang „ein Buch nach dem anderen“ gelesen – eine Arbeit, die sich im Anmerkungsteil dokumentiert.
Obwohl Miller den Trend zum Zweitbuch weit übertrumpft, entgehen ihm manche theoretische Pointen, für die er doch selbst Material liefert. So zitiert er zum Beispiel gern Foucaults Hoffnung, nicht mehr der „Gefangene des eigenen Gesichts, der eigenen Vergangenheit, der eigenen Identität zu sein“, aber er unterschätzt dieses Zitat, bemerkt gar nicht, daß darin der berühmte Satz aus der „Ordnung der Dinge“ anklingt, wonach der Mensch verschwindet „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. In jener Hoffnung Foucaults verbirgt sich – über Millers „Dämonen“ Gewalt und Tod hinaus – eine ebenso alltägliche wie spannende Frage: Wie nämlich im menschlichen Leben Selbstvergessenheit und „Selbstregulierung“ (Foucault) zusammen- oder gegeneinander spielen. Verlockend sind Erfahrungen, in denen man die eigene Vergangenheit und damit die eigene Identität hinter sich läßt; doch verlockend ist es zugleich, die Fäden in der Hand zu halten und sein eigenes Leben, seine Identität zu bestimmen.
Foucault gibt dieser doppelten Verlockung eine originelle Wendung. Er analysiert Strukturen, soziale Organisationsformen, die den Umgang mit den „Körpern“ beherrschen. Dabei meldet er auch gleich Zweifel an, ob das „autonome Individuum“, der klassische Gegner jener Strukturen, überhaupt zum Kampf taugt. Dieses „Individuum“ kommt jenen Machtverhältnissen nämlich durchaus gelegen, weil es zur Verantwortung zu ziehen ist und als Ich „im eigenen Haus“ für Ordnung sorgen kann. So ist Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung immer auch ein Verlust an Unbestimmtem, Unbeherrschtem; so bieten umgekehrt überindividuelle, anonyme Prozesse ein merkwürdiges Pendant zu selbstvergessener Seligkeit. Die moderne Sortierung zwischen selbstbestimmtem Individuum und gesellschaftlicher Fremdbestimmung gerät durcheinander.
In den letzten beiden Büchern über die Geschichte der Sexualität kostet Foucault die Zwiespältigkeit zwischen lustvollem Selbstverlust und selbstgestalteter Lust aus – gestützt durch eine waghalsige, durch Nietzsches Brille gelesene Antike und fixiert auf eine „Sorge um sich“, die den Einwand nahelegt, ob Foucault keine anderen Sorgen habe.
Foucaults Schwanken zwischen Selbstgewinn und Selbstverlust wird von James Miller als Thema zugleich angebracht und verpaßt. Doch überliefert er dazu die schönste Pointe, die sich denken läßt. Sie stammt aus einem Gespräch, das Foucault 1975 mit einem jungen Studenten geführt hat; nach Millers Überlieferung sagte er damals: „Ich bin mit meinem Leben glücklich, nicht so sehr mit mir selbst.“
James Miller: „Die Leidenschaft des Michel Foucault. Eine Biographie“. Aus dem Englischen von Michael Büsges. Kiepenheuer & Witsch, 715 Seiten, geb., 78 DM
Didier Eribon: „Michel Foucault et ses contemporains“. Fayard, Paris 1994, 367 Seiten, 140 Francs
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