: Alle Jahre wieder – das Ritual der Gegengipfel
■ In Madrid diskutierten EU-Kritiker vor allem orthodoxe Weisheiten
Madrid (taz) – Die sonst den Gegengipfeln eigene Kirchentagsstimmung wollte dieses Mal in Madrid nicht so recht aufkommen. Nur eine kleine, aus Estland angereiste Gruppe scheint das alternative Forum mit dem klangvollen Namen „Die anderen Gesichter des Europas des Kapitals“ zu genießen. Sie sind zum ersten mal mit dabei.
Die Gipfelveteranen hingegen zeigen sich eher enttäuscht. So zum Beispiel Steve Graham, einer der Organisatoren. Er war schon im letzten Jahr beim IWF in Madrid mit von der Partie. Damals waren 3.000 gekommen, „zehnmal so viele wie dieses Mal“, gibt Steve kleinlaut zu. Warum? „Eine EU- Sitzung ist einfach nicht so attraktiv wie IWF und Weltbank.“ Europa habe zudem auch Teile der Linken in seinen Bann gezogen.
Das kann man zumindest von den Veranstaltern der 58 Workshops, die in dieser Woche in der Medizinfakultät der Universität Complutense in Madrid über die Bühne gehen, nicht behaupten. Alte, orthodoxe Weisheiten prägten das Bild.
Eine Bewegung Rotes Wien – eine Neuauflage der unzähligen KPÖ-Wahlbündnisse der letzten Jahre – beklagt sich über die verlorene Neutralität des Alpenstaates, Liberación, eine Gruppe übriggebliebener spanischer Maoisten auf Sinnsuche, entdecken die Fischer „als Opfer der reichen EU-Staaten“. Alternativbewegte aus Schweden und den Niederlanden schwärmen von „Kleinstmärkten und wirtschaftlichen Zusammenhängen auf lokaler Ebene“ als Lösung der Arbeitslosigkeit.
Stimmung kam nur auf, als Menschenrechte in Europa auf dem Plan standen. Veranstalterin war Herri Batasuna, die ETA- nahe Baskenpartei. Nur einen Tag zuvor hatte die baskische Separatistengruppe eine Autobombe im Madrider Arbeiterstadtteil Vallecas, einer Hochburg der Linken, gezündet, wobei 6 Menschen getötet und 17 schwer verletzt wurden. Rechenschaft solle Kepa Landa, Vorstandsmitglied von Herri Batasuna und ETA-Anwalt, ablegen, forderten einige. Vergebens. Landa referierte weiter über Selbstbestimmungsrecht der Völker und Antifolterkonventionen.
Auf den allabendlichen Plenarsitzungen verloren sich die Zuhörer im viel zu großen Hörsaal. Die vorn saßen, viele von ihnen aus europäischen Hochschulen angereiste Professoren, referierten stundenlang, welche Institution in Brüssel welche Funktionen hat. Eine Debatte, die alternative Wege für die Zukunft aufzeigen und internationale Vernetzung schaffen könnte, kam nicht auf.
Für die ganz hartgesottenen Kongreßteilnehmer gab es drei Nachmittage, um an der „Abschlußerklärung von Madrid“ zu feilen. Was dabei herauskam, liest sich so: „Jetzt ist der Augenblick gekommen, an dem die Völker Europas – auf dem Hintergrund ihrer Unabhängigkeit und dem gegenseitigen Respekt – anfangen zu diskutieren, um neue Formen der Zusammenarbeit und politischen und kulturellen Beziehungen aufzubauen – unter sich und mit den restlichen Völkern der Welt. Beziehungen, die völlig anders und damit unvereinbar sind mit denen, die der kapitalistische europäische Einigungsprozeß uns aufgedrückt hat.“ Reiner Wandler
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