: Das neue Projekt ist die alte Koalition
Eine knappe Mehrheit der Berliner Sozialdemokraten befürwortet Koalitionsgespräche mit der CDU. Der Parteitag zementierte damit die tiefe Spaltung des Landesverbandes ■ Aus Berlin Dirk Wildt
Den Berliner Sozialdemokraten fehlt der Stolz auf ihre Partei. Die Wahlkampfparole „Gemeinsam für Berlin“ hing bei dem Sonderparteitag am Freitag an der Wand hinter dem Präsidium in der Kongreßhalle am Alexanderplatz – Grau in Grau. Nach sechsstündiger kontroverser Debatte entschieden sich die Delegierten dann kurz vor Mitternacht, mit der CDU Koalitionsgespräche zu führen. Doch mit diesem Entschluß konnte kaum jemand zufrieden sein. Mit 163 Ja- und 120 Neinstimmen konnte von Gemeinsamkeit keine Rede mehr sein.
In dieser polarisierten Situation bräuchten die Sozialdemokraten eine integrierende Figur. Doch die gibt es nicht. Weder die gescheiterte Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer noch der Landesvorsitzende, der abgehalfterte Reinickendorfer Bezirksbürgermeister Detlef Dzembritzki, noch der Fraktionsvorsitzende Klaus Böger oder der Parteilinke und ebenfalls aus dem Amt gejagte Kreuzberger Bürgermeister Peter Strieder wußten zu vermitteln. So wiederholten die Anhänger einer Große Koalition, zu denen fast ausnahmslos die gesamte Parteispitze zählt, und die Oppositionsbefürworter jene Argumente, die sich beide Seiten seit Wochen um die Ohren hauen.
Wahrscheinlich werden die Sozialdemokraten morgen das erste Verhandlungsgespräch mit der vom dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen angeführten CDU-Delegation führen. Diepgen drängt auf Ergebnisse in Sachfragen noch vor Weihnachten. Am 25. Januar soll das Abgeordnetenhaus die Landesregierung wählen.
Wie schwierig dieser Zeitplan einzuhalten ist, machte der Parteitag am Freitag deutlich. Der ehemalige rot-grüne Innensenator und heutige Oppositionsbefürworter Erich Pätzold war sich unmittelbar nach der Abstimmungsniederlage sicher, daß bei den Koalitionsverhandlungen profilierte Ergebnisse herauskommen müssen, damit ein weiterer Sonderparteitag Mitte Januar einer Großen Koalition zustimmt.
Was die Koalitionsgegner erwarten, machte der Zehlendorfer Kreisverband mit seinem Antrag deutlich: Der skandalträchtige Innensenator Dieter Heckelmann dürfe nicht wieder Senator werden, in die geplanten Auto- und U-Bahn-Tunnel unter dem Tiergarten dürfe keine einzige Steuermark mehr fließen, und die Koalition soll ein Zinsmoratorium für alle vom Lande Berlin aufgenommenen Kredite durchsetzen. Mit 147 zu 126 Stimmen wurde dieser Antrag zu unverbindlichem „Verhandlungsmaterial“ entwertet.
Die knappe Mehrheit der Delegierten entschied dagegen, womit sie sich bei Koalitionsverhandlungen zufriedengeben wollen. Die CDU soll sich fünfeinhalb Monate vor der Volksabstimmung in Berlin und Brandenburg zu einer Fusion beider Länder im Jahr 1999 bekennen. Außerdem beschloßen die Delegierten eine „sozialverträgliche Haushaltspolitik“ sowie eine „ökologisch und sozial ausgerichtete Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik“. Während Fraktionschef Böger die Länderfusion als „wichtigstes Reformprojekt“ seit der Berliner Gebietsreform in den zwanziger Jahren bezeichnete, verspottete die Sprecherin des linken Donnerstagskreises, Monika Buttgereit, die Großen Koalition als „das neue Reformprojekt“.
Nach dem Parteitag wagte Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) zu sagen, vor welchen Entscheidungen die nächste Regierung angesichts des jährlichen Defizits von rund 10 Milliarden Mark steht: Es müßten jährlich 2.000 bis 4.000 Sozialwohnungen weniger gebaut werden, obere Gehaltsklassen auf Lohnerhöhungen verzichten, der öffentliche Dienst mit Kündigungen rechnen und die Notwendigkeit dreier Universitäten sowie dreier Opernhäuser in Frage gestellt werden. Der Senator – einer der wenigen Parteipromis – hatte sich bereits in den vergangenen Wochen mit seiner Kritik an der SPD als „größter Selbsterfahrunsgruppe“ in der eigenen Partei unbeliebt gemacht.
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