: Er hatte blaue Füße, aufgeplatzte Lippen und ein Loch im Bauch, aber er fühlte sich wie jemand, der gerade eine heilige Kuh geschlachtet hatte. Dies ist die Geschichte von einem, der 1984 in Dresden mit seinen Freunden Silvester feiern wollte. Er hatte nur ein Problem: Einreiseverbot. In Budapest hatte er sich die Sache überlegt, in Prag Mut angetrunken, und an der Grenze zur DDR wäre er fast erfroren. Es war so ziemlich das kälteste Silvester seit Kriegsende, aber seine Freunde hatten den Ofn gut geheizt. Die Party stieg, und wie immer war es lustig. Zehn Tage blieb er – aber dann mußte er wieder raus. Und es war noch immer saukalt. Die taz-Geschichte zum Jahreswechsel Von Torsten Preuß
Silvester
Es war nicht so, daß er keine Angst hatte. Eher im Gegenteil. Aber das wußte er erst später.
Im Augenblick war er Feuer und Flamme. Allein die Vorstellung, es könnte klappen, war irgendwie geil. „Yeah“, rief er leise, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sah dabei in die Runde und fragte: „Warum eigentlich nicht? Den alten Säcken den Finger zeigen – das wäre fast wie früher.“
Die anderen strahlten.
Die Idee schien gut.
Der Kellner brachte einen Krug Wein nach dem anderen, dazu Schnaps mit mehr Umdrehungen als ein Kettenkarussell, sie rauchten „Symphonia“ ohne Filter und aßen scharfe Paprikabrote. Es war wie immer, wenn er sich mit seinen alten Kumpels aus Dresden in Budapest traf. Mit einem Unterschied allerdings: Diesmal sollte dem Weihnachtstreffen in Budapest noch eine Silvesterparty in Dresden folgen. Schluck für Schluck wurde aus der fixen Idee ein richtiger Plan. Silvester in Dresden, und er sollte dabeisein. Trotz Einreiseverbot.
Er blickte durch den Rauch, der von einem Ventilator, der an der Decke befestigt war, wellenartig durch den Raum getrieben wurde. An den Nachbartischen tranken Männer und Frauen, die auf dem Weg nach Hause in der Weinstube versackt waren. Niemand hatte etwas mitbekommen von dem, was er und seine Freunde seit zwei Stunden und vier Litern planten.
Er stand auf und schwankte aufs Klo.
Über das Becken hatte jemand in großen Buchstaben „Szeretlek“, das ungarische Wort für „Ich liebe dich“, geschrieben. Er pinkelte und dachte nach.
Es war gerade fünf Monate her, daß er die DDR verlassen hatte, und es war nicht so, daß er Heimweh hatte. Dieser Staat konnte ihm gestohlen bleiben, heute wie damals. Aber trotz oder vielleicht gerade wegen Partei, Stasi, FDJ, verlogenen Lehrern und verblödeten Funktionären, trotz Neues Deutschland und DDR-Fernsehen hatten er und seine Freunde immer eine Menge Spaß gehabt. Das Leben in einer Diktatur war wirklich etwas Besonderes – vielleicht war es das, was er in Westberlin vermißte.
Aber reicht das aus, um von Budapest nach Prag und von dort weiter Richtung grüne Grenze zu fahren, um illegal für ein paar Tage nach Dresden zu gehen?
Gut, zwei wären wirklich glücklich: seine Freundin und sein Sohn. Den hatte er nicht mehr gesehen, seitdem er das Land verlassen mußte. Sie ließen ihn einfach nicht mitfahren nach Budapest oder Prag oder wo immer sie sich treffen wollten.
Er schwankte hin und her.
Hinter ihm fiel eine Klotür ins Schloß. „Klick – Tür zu“, dachte er. Wie vor fünf Monaten, am 3. August 1984, Grenzübergang Berlin- Friedrichstraße, fünf Tage vor seinem 21. Geburtstag. Das Klicken der Tür im Rücken wird er nicht mehr vergessen. Ein metallenes Geräusch als letzter Gruß eines Staates, der ihm nur die Wahl gelassen hatte zwischen Knast oder West-Berlin.
Seine Freunde hatten den Wein jetzt ausgetrunken, der Kellner wollte schlafen gehen, die Kneipe war fast leer. Langsam ging er auf den Tisch zu: „Und was ist, wenn es nicht klappt?“
Sie liefen die ziemlich schmale und unbeleuchtete Seitenstraße hinunter – in die Richtung, aus der die Lichter der Elisabethbrücke funkelten.
Es war gegen vier Uhr früh, als sie auf den Steintreppen am Donauufer saßen und darüber nachdachten, warum alles so und nicht anders war.
Mit dem Plan der letzten Nacht verhielt es sich am Morgen wie mit dem Alkohol: Nach dem Aufwachen verursachte er erst einmal Kopfschmerzen.
Es war der 28. Dezember 1984, selbst in Budapest schneite es. Seit Stunden.
Er trug halbhohe weiße Puma- Turnschuhe, Bundeswehrhosen, eine Bundjacke mit Fellkragen und eine Mütze wie Jack Nicholsen in „Einer flog über das Kuckucksnest“. Er hatte noch 150 West- Mark in bar bei sich, zwei Euro- Schecks, keine Kreditkarte und vor allem noch kein Visum für die ČSSR. Von nun an, das wußte er, brauchte er eine Menge Glück – und noch mehr Schwein.
Es war 5 Minuten vor 13 Uhr, als er aus der Straßenbahn stieg und durch den Fußgängertunnel in die Vorhalle des Keleti-Bahnhofs ging. Seine Freunde hatten sein Gepäck und er das Visum mitgebracht. Es war nicht einfach, der diensthabenden Frau in der Botschaft der ČSSR zu erklären, daß er nicht, wie üblich, das Visum erst am nächsten Tag abholen könne. Aber sie war noch jung, und als er ihr etwas von einem Mädchen und einem Rendezvous in Prag am nächsten Abend erzählte, hatte sie gelächelt.
Die Touristen aus den westlichen Staaten mußten sich innerhalb der ersten 24 Stunden in der ČSSR anmelden. Also checkten sie in einem Mittelklassehotel in der Prager Innenstadt ein.
Dort bekam er einen Stempel für den 29. Dezember 1984 in seine Einreisepapiere. Angemeldet war er damit für die Dauer seines Aufenthalts im Hotel. Der aber würde schon am nächsten Tag wieder zu Ende sein. Wie er den tschechoslowakischen Grenzbeamten bei der Ausreise später erklären sollte, wo er die restlichen Tage gewesen ist, wußte er noch nicht. Für diese Tage, die er in Dresden sein wollte, würde er keinen Stempel, also keine Anmeldung in seinen Papieren haben.
Das aber würde Ärger geben bei der Ausreise, da war er sich sicher.
Er versprach sich selbst, sich bis zu diesem Tag eine gute Ausrede einfallen zu lassen – und ging mit den anderen in ihr Lieblingsschnellrestaurant an der Prager Music-Hall, ins „Lucerna“.
Zwischen Rentnern, Alkoholikern, Jugendlichen und Obdachlosen tranken sie dünnen, aber heißen Kaffee aus Tassen, die aussahen wie Krankenhausporzellan. Dazu bestellten sie Knödel mit Soße, und wie immer bezahlten sie an der Kasse dafür umgerechnet 70 Pfennig Ost.
Danach hingen sie in den Cafés am Wenzelsplatz rum.
Sie tranken tschechischen Gin und ertrugen Modern-Talking- Lieder.
Wie überall in den Großstadt- Cafés des Ostblocks liebten sie auch in Prag die Hitfabrik aus Westdeutschland.
Sie beobachteten die arabischen Schwarzhändler beim Geldtauschen, sahen zu, wie eine Spur zu aufdringlich geschminkt und gekleidete Frauen lebhaft und verführerisch auf meist ältere Herren aus dem Westen einredeten, schmunzelten über mürrische Taxifahrer, die sauer darüber waren, daß sie seit kurzem mit einem Taxameter fahren mußten – und verzogen das Gesicht hinter Polizisten mit langen Gummiknüppeln, von denen sie wußten, daß sie weh taten.
Er verglich die Eindrücke mit denen, die er zwei Monate zuvor in Paris gesammelt hatte. Er fand, daß es in Frankreichs Hauptstadt schöner, hier aber spannender war.
Am Abend liefen sie ins „U Fleku“. Sie waren nicht überrascht, daß der Laden voll war. Die Kneipe war der Treffpunkt ostdeutscher Jugendlicher in Prag. Sie zwängten sich zwischen die anderen auf die langen, harten Bänke aus dunklem Holz und tranken eine Menge schwarzes Bier, das erfreulich billig und angenehm stark war.
Er ging mit seinen Freunden alles noch einmal durch.
Er würde mit ihnen am nächsten Nachmittag in den internationalen Zug Prag–Berlin steigen und auf der letzten Station vor der Grenze zur DDR den Zug wieder verlassen. Seine Tasche würden sie als die ihre ausgeben, das sollte nicht auffallen. Hofften sie. Dann vertranken sie ihr letztes Geld und liefen über die Karlsbrücke zurück ins Hotel.
Ohne das Bier wäre er niemals eingeschlafen. – Als er aufwachte, verteilte die Sonne ihre ersten Strahlen über Prag, der Goldenen Stadt.
Der Zug verließ Prag um kurz nach 16 Uhr. Drei Stunden später stieg er in Děčin aus. Von dort nahm er einen Bus nach Hřensko, einem kleinen Ort direkt an der Grenze zur DDR, in der böhmischen Schweiz.
Der Bus hielt in Sichtweite des Grenzübergangs, es war der 30. Dezember 1984.
Die Morgensonne in Prag hatte ihn hoffen lassen, daß die Kältewelle langsam abklingen würde. Aber der Schein trog. Es waren die kältesten Tage seit Jahren. „Immerhin“, dachte er, „kein Schwein geht bei diesem Wetter raus, auch nicht auf Patrouille.“
Er hatte keine Ahnung, ob, wann und wie oft Grenzer beider Staaten ihre Abschnitte kontrollierten. Er kannte das Gelände nicht, wußte nur, wie es auf der anderen Seite aussehen würde.
Oft sind sie früher am Wandertag mit der Klasse da gewesen. „Schmilka – Kurort in der Sächsischen Schweiz!“ – das war immer noch besser gewesen als die öde Schule. Meistens war es sogar richtig gut. Sie rauchten heimlich „Karo“, und wenn sie Glück hatten, kamen sie irgendwie an Helles ran. Das teilten sie dann mit den Mädchen, und alle waren ziemlich glücklich. Den Lehrern ging es ähnlich. Sie schienen immer froh zu sein, daß ihre Schüler die Welt zur Abwechslung mal alleine entdecken konnten. Ohne daß sie ihnen vorher sagen mußten, was gut oder böse war.
Aus dieser Zeit stammte auch ein Spruch, an den er sich jetzt erinnerte: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Er drehte sich nach allen Seiten um. Gaslaternen warfen ihr dunkles und gelbes Licht auf den kleinen Ort Schmilka. Es war niemand zu sehen.
Hundert Meter oberhalb der Hauptstraße bog er in den Wald ein und lief los.
Er schaufelte sich durch den kalten Schnee den ersten Berg hoch. Als er oben ankam, waren mehr als 30 Minuten vergangen. Er schaute sich um und sah nur weitere Berge. Es war sinnlos. Jeder Weg konnte der falsche sein. Halb erfroren und ziemlich hoffnungslos kehrte er wieder um.
Eine Stunde später reaktivierte ein Glas Grog die Durchblutung seiner Hände.
Die wenigen Gäste in der kleinen Kneipe an der Straße zum Grenzübergang in Hřensko beachteten ihn überhaupt nicht.
Durch die Fenster fiel das fahle Licht der Straßenbeleuchtung auf seinen Tisch. Ihm blieb nur eine Möglichkeit: Er mußte in Sichtweite der Straße durch den Wald laufen, die den Grenzübergang Hřensko/ČSSR mit dem Grenzübergang Schmilka/DDR verband.
Der Vorteil: Sie war durchgehend beleuchtet. Der Nachteil: Von der Straße aus konnte man ihn auf jeden Fall viel einfacher entdecken.
Der Kellner wünschte ihm zum Abschied eine gute Reise, als er bezahlte.
Fünf Minuten später stand er wieder im Wald.
Der Abstand zwischen ihm und der Straße betrug etwa 800 Meter, als er loslief.
Der Schnee machte die Nacht zum Tag. Blendend weiß lag der Flockenteppich über Bäumen und Sträuchern, Felsen und Wegen. Alles, was nicht weiß war, fiel sofort auf, hob sich ab wie ein Tropfen Blut auf einem Tempotaschentuch.
Das Quecksilber verkroch sich auf 28 Grad unter Null. Die Luft stand still, so kalt war es. Nichts bewegte sich – außer ihm.
Alles war glatt und anstrengend. Schweißperlen krochen über sein Gesicht. Nur wenige schafften es von der Mütze bis zum Kinn. Die meisten erfroren unterwegs. Die Gesichtszüge vereisten. Jede Mundbewegung beim Atmen oder leise Scheiße fluchen war wie ein Nadelstich im Gesicht. Er lief durch den Wald, immer in Sichtweite der schwach beleuchteten Straße.
Er schätzte die Entfernung auf zwei Kilometer.
Erste Zweifel kamen auf und appellierten an seine Vernunft: „Bleib stehen, kehr um, geh zurück!“ Aber jeden Meter, den er unentdeckt blieb, nahm er dankbar zur Betäubung seiner Angst. Nein, er wollte keine Antwort auf die Frage, was passieren würde, wenn sie ihn hier erwischten. Er lief einfach weiter.
Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Sein Zeitgefühl war eingefroren, und als er plötzlich vor dem Schild „Halt! Staatsgrenze der DDR – Überschreiten verboten“ stand, war ihm, als wäre er am Ende und nicht am Anfang dieser Reise. Der Schritt über die Grenze war der schwerste. In diesem Schritt war alles drin: Angst, Freude, Gefängnis, Verhör, Wiedersehen und Triumph.
Nach diesem Schritt gab es keine Ausreden mehr, konnte er im Fall der Fälle nicht mehr von „verlaufen“ oder ähnlichem reden. Sie würden sofort rausbekommen, daß er aus Dresden war, und sie würden einen Teufel tun, ihm irgend etwas anderes zu glauben als das, was es war: eine illegale Landnahme oder, wie sie es nannten: eine „Verletzung der Staatsgrenze der DDR“.
Vor ihm ließen die Lichter der ersten Häuser den gefrorenen Schnee wie Wunderkerzen funkeln. Es war einen Tag vor Silvester, und die Chancen, in dem kleinen Grenzort als Fremder nicht sofort aufzufallen, standen eher gegen ihn. Oberhalb des letzten Hauses trat er aus dem Wald.
Irgend jemand hatte sich die Mühe gemacht, zu streuen. Eine Spur aus Asche markierte einen Weg, der bis hinunter an die Hauptstraße führte.
Schmilka lebte vom Grenzverkehr. Blieb der aus, war es still, einsam und gefährlich. Nicht für jeden, aber für ihn.
Er folgte der rotbraunen Asche, bis er kurz vor der Straße Stimmen hörte.
Leichtes Kichern wechselte sich mit leisem Fluchen ab. Als er sah, von wem das kam, war es zu spät. Wie auf Kommando drehten sich die drei DDR-Zöllner in seine Richtung. Luftlinie: höchstens 100 Meter.
Gleißendes Flutlicht zerteilte die Nacht, der Grenzkontrollpunkt sah aus wie die Filmkulisse aus einem Streifen über den Kalten Krieg.
Wenn die Männer den Mund zum Atmen aufmachten, stiegen kleine weiße Wolken auf. Sie traten von einem Schweinslederstiefel auf den anderen. Ein kurzes „Stehenbleiben“, ein vielleicht freundliches „Würden Sie mal bitte Ihren Personalausweis zeigen“ wären das banale Ende eines psychischen Kraftaktes gewesen, der gerade erst begonnen hatte. Er versuchte, ihre Blicke nicht zu kreuzen. Innerlich auf Hochspannung, ließ er die Zöllner links stehen und bog nach rechts ab zur Ortsmitte.
Die Einschläge der Blicke, die ihn im Rücken trafen, ließen mit jedem Meter nach.
Er wußte, daß die einzige Möglichkeit, Schmilka zu verlassen, der Doppelstockzug war, der von hier bis Dresden fuhr. Aber dazu mußte er über die Elbe. Die Lichter des Bahnhofs lockten vom anderen Ufer.
Die Fähre lag verlassen am Fluß. Er ging lauernd hinauf. Es war niemand da. Er stand in der Mitte des Schiffes und blickte sich um.
Die Elbe war zum Teil gefroren. Zwischen den flußabwärts treibenden Eisschollen stiegen Nebelschwaden auf. Er versuchte das andere Ufer zu erkennen, als hinter ihm plötzlich eine Tür aufging, ein Mann erschien, ihn am Arm packte und gereizt fragte: „Was machen Sie hier?“
Er war völlig überrascht. Er blickte ihn an und sah seine Mütze. Grünliches Kunstfell, die Ohrenschützer an den Seiten heruntergeklappt. Er kannte diese Mützen, und als er das Emblem auf der Stirn sah, überschlugen sich im Bruchteil einer Sekunde alle seine Ängste.
Der Mann vor ihm war nicht der Fährmann, sondern ein Soldat. Er hatte das Fährschiff mit dem Grenzboot verwechselt. Ein „Ach, du Scheiße!“ erstarb auf seinen Lippen. Er stammelte etwas von „Entschuldigung, Verwechslung“, redete weiter von „Fähre, andere Seite“ und „Zug“, nur um ihn nicht mehr zu Wort kommen zu lassen, ihm nicht die Möglichkeit zu geben, das auszusprechen, was alles beendet hätte: „Ihren Ausweis bitte!“
Während des Redens versuchte er Schritt für Schritt das Boot rückwärtslaufend wieder zu verlassen. Als er endlich auf den Schnee am Ufer trat, zerriß die Stimme des Mannes die Hochspannung: „In zehn Minuten setze ich über, der nächste Zug fährt in circa 20 Minuten.“
Er klang brummig, unfreundlich, aber nicht mehr gefährlich. Nur sauer, wahrscheinlich hatte er ihn geweckt.
Die Fellmütze mit dem NVA- Emblem war offenbar ein Andenken an seine Zeit bei „der Fahne“. Auf der Überfahrt war er der einzige Fahrgast. In den Augen des Fährmanns las er das Wort „Woher?“
Er sagte etwas von „Heizer“ und „Pension, hier in der Nähe“ und erzählte, daß er jetzt nach Dresden will, „Silvester mit meinen Freunden feiern“.
Der Fährmann lenkte den alten Kahn sicher durch Eis und Nebel und erzählte aus der Zeit, als die Elbe zum letzten Mal so zugefroren war, daß man drüberlaufen konnte. Heute wäre das unmöglich, sagte er, „die vergiften ja den ganzen Fluß mit ihrem Chemiescheiß“.
Er hörte ihm nur halb zu, aber daß der Fährmann ein Kritiker der herrschenden Verhältnisse war, beruhigte ihn.
Die Uhr hing wie ein Vollmond über dem Bahnsteig. Es war 21 Uhr, und er war allein.
Er wußte, daß er in den nächsten Stunden durch nichts auffallen durfte. „Sehen, aber nicht gesehen werden. Das wäre das beste“, überlegte er. Als der Zug endlich einfuhr, spiegelte sich sein Gesicht in den Fensterscheiben der Waggons.
Für jemanden, der nicht auffallen wollte, sah er ziemlich fertig aus.
Im Zug nahm er die nasse Mütze ab und zog die steife Jacke aus.
Die Heizung heizte 110 Prozent. Wärme stieg über ihn.
Er saß allein.
Draußen flogen die ersten Ortschaften vorbei.
Er blickte in die Wohnungen der Häuser, die nahe genug am Gleis standen. Eingetaucht ins blaue Licht des Fernsehers, verbrachten die Menschen den Abend friedlich in ihren warmen Stuben. „Die meisten reduzieren ,zufrieden sein‘ auf einen ganz banalen Zustand“, dachte er, „egal ob sie im Osten oder im Westen versuchen, mit ihrem Leben klarzukommen.“ Er kannte beide Seiten, und ihm ging es wie vielen anderen auch, die wie er die DDR verlassen hatten. „Unser Nein zur DDR bedeutet noch kein Ja zur Bundesrepublik“, sagten sie immer.
Natürlich war das nur ein Spruch, bestimmt tausendmal gesagt, der außer ihnen niemanden interessierte. Aber irgendwie so fühlte er sich – irgendwie zwischen allen Stühlen.
„Ist man die Heimat los, ist man heimatlos“, dachte er und sah hinaus in die rasende Nacht. In der Fensterscheibe spiegelte sich sein Gesicht. Er blickte sich an. Jetzt hatte er das, was er und die anderen immer wollten: wegfahren und wiederkommen.
Nur Scheiße, daß beides verboten war.
Dann schlief er ein.
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