Auf zum letzten Gefecht!

■ Polen: Walesa beschuldigt Premier des Verrats

Wieder tut sich ein „Abgrund von Landesverrat“ auf. Diemal nicht bei uns, sondern jenseits der Oder. Der Noch-Präsident Polens, Lech Walesa, versammelte in der Nacht zum Dienstag ein Ad-hoc-Gremium von Politikern und Juristen, um einen ungenannten hohen Staatsfunktionär der Spitzeltätigkeit für den KGB anzuklagen. Gemeint ist Premier Jozef Oleksy, Mitglied der postkommunistischen Sozialdemokraten. Der Sejm wurde dringlich einberufen. Die nationale Sicherheit, so Walesa, sei in Gefahr.

So wenig sich gegenwärtig über die Substanz der Beschuldigung sagen läßt, so viel doch über die Methoden, mittels derer sie lanciert wurde. Dem gleichen Innenminister Milczanowski, der während seiner Amtszeit konsequent jede Aufklärung von Verbrechen der Geheimdienste in realsozialistischer Zeit zu verhindern suchte, fällt es jetzt ein, mit „Belastungsmaterial“ aufzuwarten. Wer über die Akten herrscht, kann nach Belieben Dossiers zusammenstellen – oder vernichten. Als unter der ersten Solidarność-Regierung die Linie des „dicken Schlußstrichs“ unter die Vergangenheit beschlossen wurde, waren Verbrechen ausdrücklich ausgenommen. Daß dennoch gesetzliche Grundlagen für die Sicherung und die Einsicht von Akten der Geheimdienste verhindert beziehungsweise verschleppt wurden, geschah mit Billigung Walesas. Sein jetziger Aufschrei, im nunmehr wieder „roten“ Polen kämen politische Verbrecher mit heiler Haut davon, ist nichts als Schmiere.

Man könnte mit mildem Spott über dieses letzte Manöver Walesas hinweggehen, zeigte es nicht an, daß der abgewählte Präsident mit den Institutionen der Demokratie nach Belieben herumfuhrwerkt. Von der rechtswidrigen Einmischung in Personalfragen des polnischen Fernsehens über unzulässigen Druck bei der Besetzung von Ministerien und, über den (geglückten) Versuch, das Militär zum Sturz des Verteidigungsministers zu instrumentalisieren bis hin zu diversen (mißglückten) Anläufen, das Parlament mit Hilfe eines verfassungswidrig gehandhabten Vetos aufzulösen – der schwarze Faden eines bloß taktischen Demokratieverständnisses zieht sich durch die gesamte Amtszeit des Präsidenten.

Die polnischen Hausbewohner haben genug vom „starken Hausherrn“ (Walesa über sich selbst). Wenn sie sich künftig neuer Machtanmaßung erwehren müssen, etwa durch eine „rote“ Ämterhäufung, dann nicht mit Rückgriff auf das zerschlissene Charisma des „Retters Polens“ und seiner obskuranten Manöver. Christian Semler