: Historisch vergessene Region
■ betr.: „Vorschlag: Alles ist offen in Kaliningrad: Andreas Voigts Dok film „Ostpreußenland“ im Toni in Weißensee“, (Sanssouci), taz vom 9./10. 12. 95
„Ostpreußenland“ als Dokumentarfilm über die historisch vergessene Region am Rande von Europa, deren Bewohner allabendlich im kollektiven Wodkadelirium versinken, ist zu schwach und oberflächlich recherchiert. Es reicht nicht aus, vor der Kamera einen alten deutschen Partisanen in Erinnerungen schwelgen zu lassen oder russische Arbeiterinnen in ihrem Fatalismus zu zeigen.
Die wirklichen Probleme und Widersprüche dieses Landes zeigen sich jedem Touristen schlagartig nach Erledigung der afrikanisch anmutenden Grenzformalitäten:
– unzureichende Grundlageninvestitionen im Verkehrswesen, statt dessen verrottete Straßen mit abenteuerlich reparierten Brücken, ein desolates Schienennetz mit Bahnhöfen, auf denen freilaufende Kuhherden umherirren;
– mangelnde Einbindung und Akzeptanz der Sicherheitsorgane in der Gesellschaft, statt dessen eine Miliz, die nach wie vor Tag und Nacht das öffentliche Leben kontrolliert und jedes freie Lebensgefühl blockiert;
– kein funktionierendes Wirtschaftssystem für Handel und Konsum, statt dessen trostlose Wochenmärkte mit Billigwaren aus Asien, dazwischen kärgliche Angebote an Gemüse und Kleinvieh aus der Umgebung, wartende Menschenschlangen vor Brot verkaufenden Händlern auf klapprigen Lkw-Laderampen.
Der Film gibt weder Hinweise auf die Schönheit und Faszination einer trotz drohender Gefährdung durch die Industrie ökologisch noch im Gleichgewicht befindlichen Naturlandschaft; noch werden die möglichen sozialen Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung und den in den letzten Jahren umgesiedelten Russen deutscher Abstammung aus Kirgisien, Kasachstan oder der Ukraine, die plötzlich in ihrem eigenen Land zu Fremden geworden, aber nicht verantwortlich für ihr Schicksal sind, angesprochen.
Letztendlich fehlt eine kritische Darstellung der von hiesigen Vertriebenenverbänden organisierten Hilfstransporte, die ausschließlich für Rußlanddeutsche gedacht sind und zu Neid und Mißgunst in der dortigen dörflichen Gemeinschaft führen. Ich wünsche mir, daß in einer Fortsetzung der Filmreihe über diese Probleme mehr berichtet wird. [...] Jürgen Burneleit, Kreuzberg
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