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■ Das PortraitGewiefter Hodscha

Der weise „Hodscha“ ist ein hervorragender Volkstribun. Im rechten Augenblick baut er eine Anekdote ein. Von Marlon Brando und vom „letzten Tango in Paris“ ist die Rede, wenn er über das angeblich nahende Ende der bürgerlichen Parteien spricht. Necmettin Erbakan, unumstrittener Führer der islamistischen Wohlfahrtspartei „Refah“, ist ein Polit- Profi. Seit mehr als zwei Jahrzehnten — 1969 wurde Erbakan als Parteiloser in der religiösen Provinz Konya ins Abgeordnetenhaus gewählt — betreibt der Professor für Maschinenbau, der zwei Semester in Aachen studiert hat, Politik.

Der 69jährige verspricht den Türken das Blaue vom Himmel. In der Ordnung des Islam herrsche kein Unrecht, keine Armut. Eine Regierung der Wohlfahrtspartei werde die Zinsknechtschaft abschaffen und den Türken zum „irdischen Glück“ verhelfen. Die übrigen türkischen Parteiführer behandeln Erbakan als Vogelscheuche — gut genug, um Wähler vor der „islamistischen Gefahr“ abzuschrecken. Dabei ist Erbakan ein ausgekochter Pragmatiker, von der „Islamischen Heilsfront“ Algeriens (FIS) trennen ihn Welten. Schon jetzt läßt er durchblicken, daß es mit dem Zinsverbot nicht so ernst gemeint war. Er stellt sich als „Systemalternative“ dar, doch arbeitet er gern mit den verfemten „Systemparteien“ zusammen.

Necmettin Erbakan, türkischer Islamistenchef und Wahlsieger Foto: Reuter

Erbakan war den bürgerlichen Parteien in der Vergangenheit immer gut genug für eine Koalition. 1974 ging der Sozialdemokrat Bülent Ecevit ein Bündnis mit ihm ein. Auch Süleyman Demirel koalierte als Ministerpräsident mit Erbakan und machte ihn zu seinem Vize. Erbakan war stetes Opfer der Putsche des Militärs, die seine Partei verboten. Doch nach relativer Demokratisierung trat er mit einer neuen Partei an.

Seine „Wohlfahrtspartei“ ist keine Partei der rückständigen Provinz, sondern städtisch und modern. In den Ghettos und Slumgürteln der Städte fängt Erbakan seine Stimmen. Die Schärfe der Wirtschaftskrise, der Grad der Verarmung bestimmten seinen Stimmenanteil. Die achtziger Jahre mit der neoliberalen Umstrukturierung der Wirtschaft haben den Hodscha zu dem gemacht, was er ist.

Heute macht die „Wohlfahrtspartei“ den Eindruck einer heterogenen Volkspartei, die durch Erbakan zusammengehalten wird. Doch schon bald könnten innere Konflikte einer radikalislamistischen Führerschaft den Weg ebnen. Ömer Erzeren

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