■ Nach der Eroberung des tschetschenischen Gudermes
: Legitimität nach Art Rußlands

Ruslan Chasbulatow hatte schon so eine böse Vorahnung: Die Wahlen in Tschetschenien könnten die Republik spalten und zu einem neuen Bürgerkrieg führen. Das ließ er den Kreml wissen – und zog seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen zurück.

Die jüngsten Ereignisse haben auch Chasbulatows schlimmste Erwartungen übertroffen: Gudermes, die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, liegt zur Hälfte in Trümmern, Hunderte von Menschen, meistens Zivilisten, wurden bei den Gefechten zwischen Unabhängigkeitskämpfern und russischen Truppen getötet oder verletzt. Dabei ist das Feilschen um Opferzahlen, das von Moskauer Seite eifrig betrieben wird, nicht nur unwürdig, sondern auch kaum geeignet, von dem eigentlichen Problem abzulenken: einer friedliche Lösung des Konflikts. Denn die ist auch nach über einem Jahr Krieg und 30.000 Toten nicht in Sicht.

Angesichts von Tod und Zerstörung mutet die Ankündigung des russischen Innenministers Anatoli Kulikow wie Hohn und Spott an: Die russische Regierung werde von jetzt an nicht mehr mit den tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern „verhandeln“. Schließlich gebe es dafür mit dem neuen Präsidenten Doku Sawgajew jetzt eine legitime Regierung. Die Begründung läßt Erinnerungen an alte, realsozialistische Zeiten und ziemliche Zweifel am russischen Demokratieverständnis aufkommen. Denn keiner als die Machthaber in Moskau weiß besser, daß die Legitimität Saegajews der reine Schein ist. Schließlich wurde er einziger Kandidat und mittels geschönter Statistiken auf den Präsidentensessel gehievt,

Doch ist die Ankündigung des russischen Innenministers noch in andere Hinsicht bedeutsam, bietet sie doch Moskau die willkommene Möglichkeit, die Verantwortung auf ihren Statthalter in Tschetschenien abzuwälzen. Denn sollten die Verhandlungen mit dem „legitimen“ Regierungschef zu keinem Ergebnis führen, wird der nächste Militärschlag folgen. Die tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer werden sich, soviel scheint sicher, nicht so schnell ergeben. Das sinnlose Schlachten in Tschetschenien wird weitergehen. Wobei, wie gehabt, vor allem die Zivilisten die Leidtragenden sein werden. Gestern in Grosny, heute in Gudermes und vielleicht schon morgen in Atschoi-Martan, Schamil und Urus-Martan. Barbara Oertel