: Wohin?
■ betr.: „Krieg auf dem Balkan – war da was?“, taz vom 19. 12. 95
Es gibt Tage, da lese ich die taz nicht nach Themen, sondern nach AutorInnen. Bei einem Namen bleibe ich immer hängen: Vera Gaserow!
[...] Vor genau zwei Jahren habe ich bosnische Kriegsflüchtlinge (aus heute serbischem Gebiet) aufgenommen, und wenn ich jetzt in ihre Gesichter schaue, sehe ich statt Freude über das Dayton-Abkommen nur eine neue Frage (oder eine ganze alte): wohin???
Es tut gut, bei all dem selbstgerechten Jubel, klare, böse und wahre Worte zu der unverändert unsicheren Situation der Flüchtlinge, aber auch zum Anteil der heutigen Verursacher daran zu lesen. Susanne Markmeyer, Losheim
Bravo für diesen Kommentar. Er sollte in allen bundesdeutschen Zeitungen abgedruckt werden.
Es hört sich wahrlich richtig weihnachtlich und fürsorglich an, was Innenminister Kanther und die Länderinnenministerkonferenz ausgeklüngelt haben. Die etwa 320.000 bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge, die ein „Gastrecht auf Zeit“ genossen hätten, sollen ab 1. April 1996 „gestaffelt“ zurückgeführt werden. Dieses „Gastrecht“ laufe nach dem „Friedensschluß“ von Dayton und Paris aus. Man will aber (wohl gnädigerweise) den „winterlichen Bedingungen“ Rechnung tragen, so Kanther.
Ich bin gerade von einer humanitären Hilfsaktion aus Bosnien zurückgekommen. Vom „Friedensschluß“ ist wenig zu merken, außer auf einige Zentren orientierte große militärische Truppenbewegungen (Sarajevo, Tuzla, Gorni Vakuf). Unter der einfachen Bevölkerung in Bosnien und insbesondere in den Flüchtlingslagern kursieren in allen durch den Krieg zu Feinden gewordenen Lagern erhebliche Unsicherheit, oft aber auch pure Angst. Und das zu recht. Auf 2,1 Millionen Menschen schätzt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen die Zahl der bosnischen Flüchtlinge. 1,2 Millionen in Bosnien und die übrigen in Kroatien, Serbien, auch die 320.000 Flüchtlinge in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Staaten.
Bereits bei der Rückführung oder Abschiebung Hunderttausender kroatischer Bürgerkriegsflüchtlinge seit Frühjahr 1995 konnte ich bei meinen dortigen Hilfsaktionen feststellen, was sich hinter dem Wort „gestaffelt“ versteckt. Das läuft als eine Aktion nach dem Rasenmäherprinzip. Dabei sind die Rückführungsbürokraten so unsensibel, daß sie kroatische Flüchtlinge zum Beispiel auch in den von der serbischen Armee bisher gehaltenen Gebietsteil Ostslawoniens zurückschicken wollen.
Aber im Gegensatz zu Kroatien, das vergleichsweise weniger von dem Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurde, haben wir es in Bosnien mit viel beklemmenderen Größenordnungen zu tun, bei gleichzeitig unvorstellbarer Zerstörung.
80 Prozent der Flüchtlinge kommen aus plattgeschossenen Provinzgebieten, in denen gewiß hier und da und nur im kleinen mit Wiederaufbau begonnen werden kann, aber nach meiner Einschätzung des Dayton-Plans keine nennenswerte Hilfe von außen zu erwarten ist. Es geht dabei um ein menschliches „Umschichtungsproblem“, das Millionen Menschen betrifft. Es müssen Tausende Dörfer und Hunderttausende Wohngebäude, Bauernhöfe etc. wieder aufgebaut werden.
Der Plan von Dayton hätte deshalb nur dann eine Chance, wenn vor allem das flache Land einbezogen würde. Dies setzt voraus, den Wiederaufbauwillen in den Provinzen anzuregen und finanziell zu unterstützen. Und dabei spielt zusätzlich, selbst wenn noch so viel guter Wille und noch so viel Geld da wäre (was leider nicht der Fall ist) der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Jedes Holterdiepolter- und Hauruckverfahren läßt die betroffenen Flüchtlinge in eine Katastrophe stürzen. [...] Kommen die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Ausland hinzu, dann birgt dies einen solchen Konfliktstoff, daß man – so meine Prognose – den sowieso nur scheinheilig verkündeten „Frieden“ völlig in den Schornstein schreiben kann.
Ich habe auch Verbindung zu zahlreichen Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien oder Gruppen von ihnen in Deutschland. Deshalb weiß ich, es sind gar nicht so wenige, die bereits damit beginnen, sich darauf einzustellen, im Frühjahr zurückzugehen. Oft nur die Männer, die Familien sollen vorübergehend zurückbleiben. Das ist okay und sollte von der Bundesrepublik Deutschland durch Zuspruch, finanzielle und anderweitige Unterstützung gefördert werden. Es kann sogar davon ausgegangen werden, daß der überwiegende Teil der Flüchtlinge auf absehbare Zeit zurück will und auch zurückkehrt.
Aber eine in Kälte erstarrte Staatsführung, die außerdem lieber unser Geld fürs Militär als für humanitäre Hilfe verpulvert, kann nun mal keine Sensibilität einerseits für die Ängste der durch diesen Krieg geschundenen Menschen und andererseits für die Revitalisierung des Überlebenswillens und neuer Hoffnungen und darauf folgender Taten für einen Neuanfang in der Heimat aufbringen.
Die knochenharte und menschenfeindliche Abschiebepolitik der Innenminister gegen die Bürgerkriegsflüchtlinge befördert außerdem den moralischen Zerfallsprozeß in unserem eigenen Land. Insofern ist Kanther allerdings konsequent. Auf die Auswüchse einer immer unsolidarischer werdenden deutschen Gesellschaft reagiert er mit dem Abbau an Demokratie, wozu auch immer neue „Sicherheitsgesetze“, der geplante Große Lauschangriff inbegriffen, u.ä. zählen. Klaus Vack, Sensbachtal
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