Tödlicher Streit um einen Schlafplatz

■ Prozeß gegen einen Obdachlosen, der im Vollrausch auf der falschen Matratze schlief

An der Stirnseite des Sitzungssaals 237 bildet die Holzverkleidung einen Giebel. Ganz oben hineingeschnitzt steht Justitias Waage, Garantin für Gerechtigkeit, getragen von stabilen Säulen. Ein trefflicher Hintergrund für einen Richter mit weißem Haar, Kinnbart und Doktortitel. Vor ihm und ein gutes Stück niedriger sitzt Frank S., Lederjacke, Rundrücken, obdachlos. Und angeklagt des Totschlags, begangen im Sommer vergangenen Jahres im Streit um einen Schlafplatz.

Zwei Monate lebte der 28jährige zu diesem Zeitpunkt in Hamburg. Geschlafen habe er meistens am Hauptbahnhof, „da wo die Güterzüge abfahren.“ Die Tage verbrachte er „mit Kollegen“ trinkend auf St. Pauli. Und dort suchte er am Abend des 13. Juli einen neuen Schlafplatz. Am Hans-Albers-Platz habe ihm ein Passant den Weg zu einer Fußgängerbrücke gewiesen: „Gehen Sie mal da unten hin“, habe er gesagt und in Richtung Fischmarkt gezeigt. Der Vorsitzende wundert sich: „Hat er wirklich ,Sie– zu Ihnen gesagt und nicht ,Du–?“

Auf einem Vorsprung unter der Fußgängerbrücke sah der Angeklagte eine Matratze liegen. Daß dort auch Töpfe und Tüten mit Kleidung gewesen sind, will er erst später auf Fotos erkannt haben. Die hatte ihm die Mordkommission nach seiner Festnahme gezeigt. „Sie müssen aber doch geahnt haben, daß der Platz jemandem gehörte“, meint der Richter. Und belehrt den Angeklagten, der vorgibt, das nicht gewußt zu haben: „Nach ,wissen– habe ich auch nicht gefragt.“

Frank S. hatte Korn und Bier getrunken, wie jeden Tag, sagt er. Irgendjemand bot ihm Spiritus an. Wie das denn geschmeckt habe, erkundigt sich der Richter. „Das hab' ich doch gar nicht gemerkt“, meint der Angeklagte. Er sei voll gewesen und kaputt und froh, sich zum Schlafen hinlegen zu können. Als der Besitzer der Matratze ihn dann mit einem Fußtritt weckte, sei er „hoch“, habe sich gewehrt, gekämpft. Dabei sei der andere vom Brückensockel gestürzt, mehr als drei Meter tief. Er starb sechs Wochen später an seinen Verletzungen.

Nach dem Sturz, sagt Frank S., sei er erstmal froh gewesen, wieder seine Ruhe zu haben, habe sich dann aber doch Gedanken gemacht und nach dem Opfer gesehen. Dessen Uhr nahm er an sich. Die Taschen des Verletzten habe er aber nicht durchwühlt. Warum er sich nicht um Hilfe bemüht habe, will der Richter wissen. „Ich weiß nicht. Das war wohl der Schock. Oder Angst.“

Er könne sich an alles nicht mehr so genau erinnern. Das komme vom Trinken. Es sei aber kein Mörder, beteuert er mehrfach. „Deswegen sind wir ja hier“, meint der Richter, „um zu klären, was sie sind.“

Der Prozeß wird heute fortgesetzt. Stefanie Winter