Das Eis ist glatt und dünn

Der bei den Eiskunstlauf-Meisterschaften sichtbare Mangel an kompetentem Nachwuchs treibt den Verband zur Strukturreform  ■ Aus Berlin Matti Lieske

Wenn die „Stuttgarter Vorkommnisse“ zur Sprache kommen, werden die Blicke der Verantwortlichen der Deutschen Eislauf- Union (DEU) seltsam starr. Die Affäre um den Trainer Karel Fajfr, der wegen sexuellen Mißbrauchs und Körperverletzung verurteilt wurde, liegt ihnen nach wie vor schwer im Magen. Ein kurzes Schlucken, und dann sagt Präsident Wolf-Dieter Montag, was er immer gesagt hat: Man könne nicht alles wissen, was in einem solch großen Verband passiert, man werde alles tun, um zu verhindern, daß diese Dinge noch einmal vorkommen, und im übrigen seien die „Stuttgarter Vorkommnisse“ ein Einzelfall. Glücklicherweise wüßten dies auch Eltern und eislaufende Kinder, nach dem Fall Fajfr habe es – gottlob – keinen Mitgliederschwund gegeben. Labsal für die geplagten Funktionärsseelen, die sich bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin zusätzlich über eine gutbesuchte Halle und ausgedehnte Fernsehübertragungen freuen durften.

Imageprobleme kann der Eiskunstlauf im Moment am allerwenigsten gebrauchen, die Lage ist auch so schon schwierig genug. Das Innenministerium knausert mehr denn je mit finanziellen Zuwendungen für den Sport, die Verteilung ist strikt von der Leistung abhängig. Auf reichen Geldsegen kann nur hoffen, wer Erfolge vorweist. Und diese sind langfristig in Gefahr. Zwar verfügt die DEU, wenn im nächsten Jahr auch das Eistanzpaar Jennifer Goolsbee/ Samvel Gezalia international startberechtigt ist, in jeder Kategorie über eine Vertretung, die zumindest bei Europameisterschaften Medaillen gewinnen kann, aber die Basis, da sind sich alle einig, ist dünn. Wie dünn, zeigte sich bei den Deutschen Meisterschaften, wo die mißlungene Kür des eingebürgerten Titelträgers Andrej Wlatschenko und das katastrophale Kurzprogramm von Tanja Szewczenko demonstrierten, auf welch wackligen Beinen die deutsche Eislaufherrlichkeit steht.

„Das Eis ist glatt“, hatte Tanja Szewczenko vorher die frostige Variante des runden Balles von Sepp Herberger beschworen, doch auch sie konnte nicht bestreiten, daß bei ihr und den anderen haushohen Favoriten schon eine ganze Menge schiefgehen müßte, um sie am Titelgewinn zu hindern. „Es gibt viele hochtalentierte junge Läuferinnen“, sagte Szewczenko, konnte aber dann trotz intensivsten Nachdenkens nicht mehr als zwei Namen aus dem Gedächtnis kramen. Der in Weimar geborene Ex-Lette Andrej Wlatschenko verpatzte die ersten drei Dreifachsprünge seiner Kür und zeigte dennoch schon mit seiner Musikauswahl, wie turmhoch er über der Konkurrenz steht. Während die meisten Läufer nach pompösen Filmmusiken wie „Conquest of Paradise“, „Das Boot“ oder „Der letzte Mohikaner“ über das Eis stürmten, konnte der 21jährige zu Melodien aus Gounods „Margarete“ nicht nur sein Sprungvermögen, sondern vor allem seine tänzerischen Fähigkeiten ausspielen. Beim Paarlauf waren überhaupt nur vier Paare im Erika-Heß-Stadion angetreten, von denen dank des Europameistertitels der alten und neuen Meister Mandy Wötzel und Ingo Steuer drei an der EM in Sofia teilnehmen dürfen.

„Die Decke ist sehr, sehr dünn geworden“, beklagt DEU-Sportdirektor Peter Krick. Der Sportkoordinator des Verbandes, Udo Dönsdorf, spricht von einer „Einbahnstraße“. Die Schuldigen an der Misere sind längst gefunden: egoistische Trainer und faule Athleten. Das alles soll nun anders werden. „Grundlegend reformieren“ will Peter Krick die Strukturen, das Zauberwort heißt, wie überall in den Sportverbänden, „Professionalität“. Trainer und Stützpunktleiter, die nicht kooperieren wollen, fliegen raus. „Erbhöfe“ werde es nicht mehr geben. Erste Opfer: die Trainer Knut Schubert sowie Romy und Rolf Oesterreich aus Berlin-Hohenschönhausen, deren Verträge im Sommer auslaufen. Schubert, nach der Wende zunächst erfolgreich, wird unter anderem vorgeworfen, daß er kein Interesse an der ihm angetragenen Paarlauf-Schulung zeigt. „Punkt, aus“, sagt Krick, „es geht nicht mehr, daß Leute ihr eigenes Süppchen kochen.“ An dieser Stelle kommt sogar Karel Fajfr gelegen, denn das neue Konzept werde solche „Inseln“ wie in Stuttgart nicht mehr zulassen.

Noch gelegener kommt der Wegfall der Ost-Subventionen. Bislang gab es getrennte Mittel vom Bund, wobei „ein Vielfaches für die alte DDR“ (Krick) bestimmt war. Jetzt gibt es die Einheit auch finanziell, ein zügiger Westfluß der Gelder scheint vorprogrammiert, hauptsächlich wohl nach Oberstdorf. Dort residieren die renommierten Trainer Martin Skotnicky und Peter Jonas, bei denen immer mehr Spitzenläuferinnen und -läufer trainieren. Sogar Wötzel/Steuer, normalerweise im wohlgelittenen Stützpunkt Chemnitz beheimatet, garnierten hier, mit freundlicher Unterstützung des finnischen Eistanzpaares Rahkamo/Kokko, ihre Kür mit tänzerischen Elementen.

Kaum zufällig bescheinigt Peter Krick vor allem den in Oberstdorf Trainierenden „professionelle Arbeit“. Begeistert schwärmt er von Paaren wie Torvill/Dean oder den Geschwistern Duchesnay, die das Leistungszentrum Oberstdorf, im Gegensatz zu vielen deutschen Aktiven, gern nutzten und „täglich sechs bis acht Stunden“ trainierten. Ein ähnliches Pensum wird künftig auch vom einheimischen Kufen-Nachwuchs verlangt, zumal sich der Eiskunstlauf dank der erstmals bei EM, WM und Champions Series gezahlten Preisgelder inzwischen auch finanziell lohnen kann. „Wer Geld verdienen will, muß auch arbeiten“, sagt markig Sportdirektor Krick, „das haben noch nicht alle unsere Läufer kapiert.“ Ein gewisser Stuttgarter, der es ihnen wie kein anderer eintrichtern könnte, steht vorläufig allerdings nicht zur Verfügung.