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Die Wahrheit über Ustica lag im Panzerschrank

■ 15 Jahre nach dem Absturz eines Flugzeugs über der Mittelmeerinsel Ustica ist bewiesen: Die Katastrophe passierte während eines Putschversuches gegen Gaddafi

Rom (taz) – Nur sehr langsam bewältigen die italienischen Ermittler das vorige Woche bei einem ehemaligen Geheimdienstgeneral beschlagnahmte Material, das neben allerlei Brisantem über Politmorde wie den am ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro vor allem Beweismaterial über den seit 15 Jahren ungeklärten Absturz eines Passagierflugzeuges über der Mittelmeerinsel Ustica enthält. Im Panzerschrank der Wohnung von Exgeneral Demetrio Cagliandro fand sich eine komplette Recherche über das Unglück, bei dem alle 81 Flugzeuginsassen umgekommen waren. Ergebnis: Zur Zeit des Absturzes hatte es einen Luftkampf zwischen US-amerikanischen und französischen Jagdflugzeugen auf der einen und lybischen Maschinen auf der anderen Seite gegeben. Dabei wurde die DC9 versehentlich von einer Rakete getroffen. Das Frappierende an dem Dossier: Es stammt aus dem Jahr 1984. Doch bis in die 90er Jahre hinein hatten Luftwaffe und Geheimdienste stets behauptet, die DC9 sei entweder wegen Materialermüdung oder aufgrund einer im Inneren stattgefundenen Bombenexplosion abgestürzt. Staatsanwälte, die sich seit Mitte der 80er Jahre an Ermittlungen gemacht hatten, und Journalisten, die bereits kurz nach dem Absturz Zweifel an den offiziellen Versionen angemeldet hatten, stießen an eine „Mauer aus Gummi“ (so der Titel eines über den Fall gedrehten Films). Monoton wiederholten die Behörden, zur Unglückszeit seien alle Flugzeuge am Boden, alle Raketen in den Hangars gewesen; Erkenntnisse über Manöver oder Flugbewegungen anderer Nationalität lägen nicht vor.

Das Dossier wird auch Politiker in Bedrängnis bringen, vor allem den damals amtierenden Regierungschef Francesco Cossiga, der bisher immer behauptet hatte, er sei allenfalls hinters Licht geführt worden. Ihm weisen die Dokumente nach, daß er nicht nur vom Unglückstag an die Wahrheit gewußt hatte, sondern daß er selbst die Anordnung zur Vernebelung gegeben hat.

In Bewegung war der Fall schon in den vergangenen Woche gekommen: Im November hatte Ministerpräsident Lamberto Dini völlig überraschend verfügt, daß die bisher stets als militärisches Geheimnis gehüteten Radaraufzeichnungen und Protokolle über Flugbewegungen der Luftwaffe offengelegt werden, indem der Ermittlungsführer Staatsanwalt Rosario Priore den Dechiffrierschlüssel dazu erhält. Daraus hatte sich ergeben, daß für den Abschuß aller Wahrscheinlichkeit nur ein französischer Jäger in Frage kommt. Er hatte auf eine lybische Maschine gezielt, in der Staatschef Muammar al-Gaddafi sitzen sollte. Doch die auf Wärmesignale reagierende Rakete hatte die DC9 anvisiert und getroffen.

Priore hatte daher eine Anzahl Radarlotsen aus jener Unglücksnacht zum Verhör bestellt – einer davon wurde kurz vor dem Vorladetermin erhängt aufgefunden, angeblich Selbstmord. Ein Schicksal, das bereits früher ein Kollege vom ihm erlitten hatte: 1987 fand man den Mann, der nach Auskunft seiner Familie unmittelbar nach der Unglücksnacht von einem „beinahe ausgebrochenen Krieg“ gesprochen hatte, an einem Baum hängend – angeblich ebenfalls Selbstmord. Und noch weitere zehn Zeugen kamen allesamt kurz nach Aussagen, die der offiziellen Version widersprachen, oder vor Verhörterminen auf unnatürliche Weise ums Leben, manche durch Unfall oder medizinisch nicht erklärbare Infarkte. Zwei nachweislich zur Flugzeit der DC9 in der Luft befindliche Abfangpiloten kamen 1988 bei dem bis heute nicht geklärten Zusammenstoß der Kunstflugstaffel „Frecce tricolori“ über dem deutschen Militärflughafen Ramstein ums Leben. Das Unglück forderte 70 Menschenleben.

Die bei dem ehemaligen Geheimdienstgeneral gefundenen Materialien erhärten unter anderem auch von der taz schon früher belegte Erkenntnisse, wonach Frankreich und Nato-Länder (darunter auch die Bundesrepublik) 1980 einen Putsch gegen Gaddafi angezettelt hatten, in dessen Verlauf Frankreich zwölf an Gaddafi gelieferte und bereits bezahlte Mirage- Jagdbomber entführen wollte. Für den Fall eines Entkommens Gaddafis lagen Abfangjäger im Hinterhalt. Gadaffis Flugzeug startete tatsächlich, landete jedoch nach einer scharfen Wende auf Malta. Die Nato-Schützen nahmen unterdessen möglicherweise eine Maschine der Eskorte ins Visier.

Tatsächlich stürzte fast gleichzeitig eine MIG-23-Maschine mit lybischem Hoheitszeichen im süditalienischen Sila-Gebirge ab. Doch die kann kaum aus Libyen gekommen sein, denn ihre Reichweite ist dazu gering. Wahrscheinlich war das Flugzeug eine Art Lockvogel, um Gaddafi in Sicherheit zu wiegen. Jedenfalls taten die italienischen Militärs alles, den Zusammenhang zu verschleiern: Drei Wochen nach dem Debakel fingierten sie mit niedrig fliegenden Maschinen einen Absturz, um danach die Maschine „aufzufinden“ – einschließlich des zwischenzeitlich eisgekühlten Piloten, der aber merkwürdigerweise italienische Armeestiefel und eine amerikanischen Helm trug.

Daß die neuen Beweise in Fall Ustica gerade jetzt auftauchen, bringt vor allem die Franzosen in Bedrängnis. Die Aufhebung des militärischen Geheimnisses und damit die Beweisführung gegen Frankreichs Luftwaffe ist auch ein politischer Akt gegen den Nachbarn – eine Retourkutsche für all die bösartigen Angriffe und Demütigungen, die Staatspräsident Chirac Italien derzeit zufügt, nachdem die Regierung Dini die UNO- Resolution gegen die Atomwaffenversuche Frankreichs unterstützt hat. Werner Raith

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