Die Front gegen die Wohlfahrtspartei ist brüchig

■ Morgen tritt erstmals das neugewählte türkische Parlament zusammen. Die bürgerlichen Parteien sind zerstritten. Die Islamisten hoffen, davon zu profitieren

Ankara (taz) – Einen Tag vor dem ersten Zusammentreten der neugewählten türkischen Nationalversammlung ist völlig unklar, wer künftiger Ministerpräsident des Landes wird. Bevor Staatspräsident Süleyman Demirel den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt, wird er morgen die Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien empfangen. Binnen 45 Tagen muß eine Regierung, der das Parlament das Vertrauen ausspricht, gebildet werden. Ansonsten kann der Staatspräsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben.

Bislang ist keine Koalition, die über die Mehrheit in der 550köpfigen Nationalversammlung verfügt, in Sicht. Der mächtige Arbeitgeberverband Tüsiad sowie die großen bürgerlichen Tageszeitungen fordern eine bürgerliche Koalition der „Partei des rechten Weges“ unter der noch amtierenden Ministerpräsidentin Tansu Çiller und der „Mutterlandspartei“ unter Mesut Yilmaz. Beide Parteien, die mit 135 bzw. 131 Sitzen im Parlament vertreten sind, verfügen gemeinsam zwar nicht über die absolute Mehrheit. Doch es gilt als sicher, daß eine solche gegen die islamische „Wohlfahrtspartei“ gebildete Koalition auch von einer der beiden Mitte-Linksparteien gestützt würde. Die anti-islamistische Front in den Medien präsentiert sogar ein aus dem Israel der achtziger Jahre importiertes Rezept zur Regierungsbildung: Rotation des Ministerpräsidenten unter einer großen Koalition; Tansu Çiller von der Partei des rechten Weges und Mesut Yilmaz von der Mutterlandspartei sollten das Amt des Ministerpräsidenten und des Außenministers abwechseln.

Doch die persönliche Feindschaft zwischen Çiller und Yilmaz – sie denunzierten sich während des Wahlkampfes gegenseitig als „Lügner“ und „Landesverräter“ – erschwert ein Zusammengehen der Parteien. Yilmaz will Çiller um keinen Preis als Ministerpräsidentin akzeptieren. Lachender Dritter ist der Islamist Necmettin Erbakan. Als Vorsitzender der stärksten Fraktion im Parlament stehe ihm das Amt des Ministerpräsidenten „selbstverständlich“ zu, wiederholt er bei jeder Gelegenheit und frohlockt, Yilmaz sei dazu „verurteilt“ mit ihm zu koalieren. Viele Konservative in der Mutterlandspartei seien seine „Freunde“. Falls Yilmaz sich einer Koalition verweigere, werde die Partei auseinanderbrechen.

Erbakans Optimismus ist nicht völlig grundlos. In der Mutterlandspartei steht ein konservativer Flügel, der auch mit der Wohlfahrtspartei koalieren würde, einem liberalen Flügel gegenüber. „Eine Front gegen die Wohlfahrtspartei zu errichten, ist falsch“, meint der einflußreiche Abgeordnete der Mutterlandspartei, Korkut Özal, Bruder des verstorbenen Staatspräsidenten und Gründers der Partei, Turgut Özal. Es kommt hinzu, daß die Mutterlandspartei bei den Wahlen ein Wahlbündnis mit der faschistisch-religiösen „Unionspartei“ einging. Von den 131 Abgeordneten, die auf den Listen der Mutterlandspartei gewählt wurden, gehören sieben der Unionspartei an. Yilmaz, der unmittelbar nach den Wahlen eine Koalition mit der Wohlfahrtspartei ausschloß, wählt mittlerweile vage Formulierungen.

Ob Erbakan künftiger Ministerpräsident wird oder eine bürgerliche Koalition zustandekommt, steht somit in den Sternen. Falls es zu keiner Koalitionsregierung kommt, der das parlamentarische Vertrauen ausgesprochen wird, werden Neuwahlen anstehen. Ministerpräsidentin Çiller („Eine Koalition mit der Wohlfahrtspartei ist Landesverrat“) traf sich bereits mit dem Vorsitzenden der faschistischen „Nationalistischen Aktionspartei“, Alparslan Türkeș, dessen Partei an der Zehnprozenthürde gescheitert war. Sie spekuliert, im Wahlbündnis mit Türkeș, der über sichere acht Prozent verfügt, all jene Wähler der Mutterlandspartei zurückzugewinnen, für die Islamisten an der Regierung ein Greuel wären. Ömer Erzeren