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Ein recht bürgerliches Schreckgespenst

Die islamistische türkische Wohlfahrtspartei taugt Konservativen als Buhmann und als Koalitionspartner. In der Wirtschaftspolitik ist sie liberal, in der Kurdenfrage nationalistisch-chauvinistisch  ■ Aus Ankara Ömer Erzeren

Necmettin Erbakan, der Vorsitzende der islamistischen „Wohlfahrtspartei“ ist verärgert. Auf einer Pressekonferenz in Ankara wollte die Partei ausländischen Journalisten ihren Wunschkandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten präsentieren: Necmettin Erbakan. Da erinnert ihn eine Journalistin an seine Äußerung, es werde sich noch herausstellen, ob die „Wohlfahrtspartei blutig oder mit Wahlstimmen an die Macht kommt“. Die Frage rückt die Wohlfahrtspartei, die mit gut 21 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen am 24. 12. 95 die meisten Stimmen einheimste, in die Nähe islamischer Terrororganisationen.

Tatsächlich war die Äußerung Erbakans aus dem Kontext gerissen. „Blutig“ bezog sich auf eine undemokratische Intervention von außen – zum Beispiel einen Militärputsch, um eine Regierung der Wohlfahrtspartei zu verhindern. Ganz moderate Töne schlägt der vielleicht künftige Ministerpräsident Erbakan an, um die Politik seiner Partei zu charaktisieren. Bei der Zollunion mit der EU, die er einst als „Knechtschaft unter einem Vertrag der Giauvuren (Ungläubigen)“ verurteilte, spricht er heute davon, daß die Beziehungen „neu geprüft“ werden müßten. Einzelne Bestimmungen des Vertrags seien nicht im türkischen Interesse. „Wir werden die islamische Nato“ gründen, prahlte Erbakan einst. Heute will er sich offensichtlich mit der bestehenden Nato begnügen. „Wir werden von innen der Nato behilflich sein, eine neue Identität zu finden.“ Die Nato dürfe nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht den Islam als neues Feindbild ausmachen. Auch Kredite des Internationalen Währungsfonds seien für eine Regierung unter Führung der Wohlfahrtspartei kein Tabu. Mit dem islamischen Zinsverbot nimmt man es heute ohnehin nicht so ernst. „Unter dem Propheten herrschte schließlich keine inflationäre Entwicklung“, merkt der islamistische Intellektuelle Abdurrahman Dilipak an.

Erbakan zitiert eine Schlagzeile aus der europäischen Presse: „Die Feinde Europas auf dem Weg zur Macht“. Erbakan: „Was für ein Schwachsinn. Die Beziehungen zu Europa werden sich unter einer Regierung der Wohlfahrtspartei intensivieren.“ Tatsächlich hat die Wohlfahrtspartei nichts mit einer islamischen Terrororganisation gemein. Sie ist eine heterogene Volkspartei.

Jahrzehnte wurden die Anhänger Erbakans von dem herrschenden Regime und von den Militärs als Aussätzige behandelt. Als Gefahr, die den laizistischen Staat des Republikgründers Mustafa Kemal (Atatürk) aus den Angeln zu heben drohten. Auch heute, wo sie an der Schwelle zur Macht stehen, wird von den übrigen Parteien ein Zusammengehen mit der Wohlfahrtspartei zu einer Koalition als etwas Verrufenes angesehen. Dabei wird vergessen, daß die Übergänge zwischen den bürgerlichen Rechtsparteien und der Wohlfahrtspartei fließend sind. Eine Reihe führender Politikern der „Mutterlandspartei“ wechselten zur Wohlfahrtspartei und umgekehrt. Der Gründer der Mutterlandspartei und spätere Ministerpräsident und Staatspräsident, Turgut Özal, war 1977 noch Abgeordnetenkandidat auf den Listen Erbakans.

Nicht theologisches Wissen und Denken entscheidet bei der Wohlfahrtspartei über die Karriere von Parteifunktionären, sondern weltliche Qualitäten. Zwei Schlüsselworte kennzeichnen die Parteiideologie: „Milli Görüș“ („Nationale Anschauung“ – Ideologen der Partei übersetzen es gern mit „Neue Weltanschauung“ – und „Adil Düzen“ („Gerechte Ordnung“). Es ist kein Zufall, daß zunehmend der Begriff der „Gerechten Ordnung“, der auf soziale Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben abzielt, in den Vordergrund gestellt wird. In der von Arbeitslosigkeit und Inflation geplagten türkischen Ökonomie ist die „Gerechte Ordnung“ das Zauberwort, um allen zu Wohlstand zu verhelfen. Erfolgreich hat sich die Wohlfahrtspartei als „Systemalternative“ zu den bürgerlichen Parteien präsentiert, die sie als „Knechte“ des IWF denunzierte.

Doch entgegen der Propaganda ist der Deal Erbakans mit den Kapitalisten und den Militärs längst perfekt. Mehr und mehr wird die Wohlfahrtspartei selbst zu einer Systempartei. „Möchten ihr noch mehr Gewinne machen. Möchtet ihr noch leichter Gewinne machen. Ich weiß, ihr möchtet. Ihr Unternehmer seid die größten Verteidiger der ,Gerechten Ordnung‘“ scherzte Erbakan im Oktober vor der Istanbuler Handelskammer. Ganz zum Gefallen der Militärs malt Erbakan das Gespenst der Zerstückelung der Türkei durch Seperatisten an die Wand. „Unsere ehrenhaften Soldaten werden jede Schwierigkeit besiegen.“ Um den Preis erheblicher Wahlverluste in den kurdischen Provinzen und unter heftigem Protest der lokalen Parteiorganisationen hat Erbakan bei den Wahlen in den kurdischen Regionen Kandidaten aufgestellt, die dem Regime genehm waren.

Eine starke, nationalistische bis faschistische Strömung hat mittlerweile starken Anhang in der Partei. Identifikationsfigur dieser Strömung ist der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökcek, der einst Parteigänger der Mutterlandspartei und der faschistischen „Nationalistischen Aktionspartei“ war. Gerade dieser Flügel der Partei, der die Pfründe der Ämter kennt, drängt heute auf eine Koalition mit der Mutterlandspartei. Die ideologischen Differenzen zu den bürgerlichen Rechtsparteien sind gering: ein nationalistisch-chauvenistischer Kurs in der Kurdenfrage, Liberalismus in der Ökonomie.

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