Irritationen einer Geschäftsführerin

■ Jura-Student verlor Job, weil er unter dem Tourette-Syndrom leidet Von Stefanie Winter

Trinkgeld habe er ziemlich häufig bekommen. Am Tag seines Rausschmisses, erinnert sich Sascha Kahn, waren es 17 Mark. Auch seine Chefin habe ihn ausschließlich gelobt. Und ihn gebeten, er möge die Kündigung nicht persönlich nehmen. „Dabei ist das wohl der persönlichste Grund, den ich mir vorstellen kann“, meint Sascha. „wegen einer Krankheit entlassen zu werden.“

Saschas Krankheit heißt „Tourette-Syndrom“. Der 22jährige Jura-Student hat diese „Tic-Erkrankung“ seit er sechs Jahre alt ist. Benennen und einordnen kann seine Familie die ständig wiederkehrenden motorischen und vokalen Tics erst seit einem Dreivierteljahr, weil die Erkrankung auch unter Ärzten weitgehend unbekannt ist.

Als inneren Drang, mit Kopf oder Armen Bewegungen auszuführen, Laute oder Wörter zu äußern oder zu wiederholen, beschreibt Sascha die Symptome seiner Krankheit. „Und irgendwann muß das raus.“ In ungewohnten Situationen versuche er, sich „zusammenzunehmen“. Eine fremde Umgebung und unbekannte Menschen verstärkten jedoch auch den Druck, unter dem der Kranke steht.

Im Herbst vergangenen Jahres hatte Sascha in einem Büromarkt einen Job angenommen – Kopieraufträge erledigen, Bücher binden oder laminieren, zwölf Stunden in der Woche. Zu dieser Zeit habe er besonders starke vokale Tics gehabt, erzählt Sascha. Für andere habe sich das möglicherweise wie ein Stottern angehört. Nach zwei Wochen habe ihn seine Chefin vorsichtig gefragt, ob er vielleicht Artikulationsprobleme habe. Sascha schilderte ihr seine Krankheit. Und seine Chefin äußerte Bedenken, daß Kunden deshalb wegbleiben oder zumindest irritiert sein könnten. Ob sie denn ähnliche Bedenken hätte, wenn ein Afro-Deutscher als Angestellter die Kundschaft irritieren würde, habe Sascha sie daraufhin gefragt. Als „Flucht nach vorn“ bezeichnet das der 22jährige. Die Marktleiterin wollte daraufhin erst einmal abwarten.

Kurz darauf meinte Saschas Chefin, Irritation in den Augen einer Kundin erkannt zu haben. Diese wollte mit einem Euroscheck bezahlen. Und mußte sich daraufhin von Sascha nicht nur ein „O.k.“ anhören, sondern zweimal hintereinander, laut und deutlich. Das sei der Chefin tierisch unangenehm gewesen – und letzthin Grund genug, die Kündigung auszusprechen. Bei ihrem ersten Gespräch mit Sascha habe sie erklärt, daß für ihre Firma „Maxi-Papier“ ein gewisser Standard einfach sehr wichtig sei. „Damit ist dann wohl auch ein Standard für Menschen gemeint.“

Das Tourette-Syndrom ist seit 16 Jahren Teil von Sascha Kahns Leben. Als Kind wurde er im UKE untersucht, zu Psychiatern geschickt und mit Psychopharmaka behandelt. Er habe die Krankheit lange verdrängt und erst in der letzten Zeit gelernt, die Symptome anzunehmen. Sascha hat Abitur gemacht, als Zivildienstleistender einen Schwerstbehinderten betreut, während der Schulzeit als Eisverkäufer gejobbt und Pizza ausgeliefert. Er sei immer „gut durchgekommen“. Zum ersten Mal habe sich die Krankheit jetzt extrem auf sein alltägliches Leben ausgewirkt.

Sascha hat die Arbeit im Copy-Center Spaß gemacht. Doch mehrere Kunden sollen sich beschwert haben, daß er mit seinem Handicap der teilweise schweren körperlichen Arbeit nicht gewachsen sei, begründet Marketingleiter Jan Christiansen die Kündigung. „Wenn Kunden diesen Eindruck haben, nehmen wir darauf Rücksicht.“ Als Ausgrenzung will er das nicht verstanden wissen. Es gehe nicht darum, Kundenkontakt zu verhindern, sondern gefährliche Situationen zu vermeiden – wenn jemand mit motorischen Störungen zum Beispiel Schneidemaschinen bedient. Hätte Sascha vor seiner Einstellung von der Krankheit erzählt, sagt Christiansen, wäre er wahrscheinlich nicht im Copy-Center eingesetzt worden.

Die Marktleiterin halte er – im positiven Sinne – für sehr sensibel. Daß sie aufgrund ihrer Sensibilität Kundenreaktionen überbewertet hätte, könne er nicht ausschließen.