: "Sie schließen einen Pakt"
■ Was will der Alte mit dem schönen Mädchen? Was will das schöne Mädchen mit ihm? Ein Gespräch mit dem Regisseur Claude Sautet über seine Mama und seinen neuen Film "Nelly und Monsieur Arnaud"
Der französische Filmregisseur Claude Sautet gilt als Chronist der französischen Bourgeoisie. Anders als sein Kollege Chabrol ist ihm Sarkasmus jedoch fremd. Seine Filme, auch sein neuester, „Nelly und Monsieur Arnaud“, markieren eher Momente einer Gefühlsverwirrung, aufgezeichnet im Maßstab 100:1. Doch der Versuch, sich Klarheit über seine Gefühle zu verschaffen, gelingt nie. Am Ende bleibt nur die Flucht.
Als Nelly und Monsieur Arnaud das erste Mal zusammen essen gehen, hält sich die Kamera diskret zurück. Man sieht einen alten Mann und eine junge Frau, die sich unterhalten. Sie agieren mit einer Zurückhaltung, die vermuten läßt, daß sie weder verwandt noch ein Paar sind. Ihrer Beziehung haftet etwas Rätselhaftes an, eine Art von Komplizenschaft. Dann lacht Nelly, und plötzlich versteht man, was an den beiden rätselhaft ist – sie amüsieren sich. Monsieur Arnaud (Michel Serrault) lebt allein. Das Leben ist vorbei, es gibt nur noch Bücher und gelegentlich einen Besuch im Café. Er ist immer formvollendet gekleidet, aber das ist mehr ein Ausdruck von Gewohnheit, nicht von Erwartung. Als er Nelly (Emmanuelle Béart) kennenlernt, stürzt er sich mit einer kindlichen Aggressivität in die Begegnung, als wäre sie seine letzte Chance. Er ist launisch und sarkastisch, aber er bringt Nelly zum Lachen. Neben ihm wirken ihr Ehemann und ihr Liebhaber konventionell. Und doch ist Monsieur Arnauds Werbung ohne Ziel. Er ahnt einen Blick voraus, den Sautet in der Mitte des Films gestattet, als man Monsieur Arnaud schon fast verfallen ist. Serrault zieht sein Hemd aus. Er ist allein, und nichts lenkt den Blick von seinem Körper ab. Ein alter Mann.
Claude Sautet ist 71 Jahre alt, schlank und hält sich sehr gerade. Er hat vollkommen weiße Haare und hellblaue Augen. Beim Interview trägt er einen schwarzen Cordanzug und ein hellblaues Hemd. Ein starker Gegensatz zu seinem distinguierten Äußeren ist seine rauhe Stimme, die wohl von den vielen Zigarillos herrührt. Als er sich den ersten anzündet, sagt er entschuldigend:
Eine schlechte Angewohnheit.
taz: Überhaupt nicht. Früher haben in Ihren Filmen alle geraucht. In „Die Dinge des Lebens“ wird praktisch ununterbrochen geraucht. In den neuen Filmen ist das anders.
Sautet: Ich mache es nicht absichtlich. Das liegt so in der Luft. Früher war Rauchen der Ausdruck von bürgerlichem Streß, alle waren immer gestreßt. Heute ist der Streß introvertierter. Da wird viel mehr runtergeschluckt. Das zeigt sich dann mehr im Gesicht und nicht mehr in der Geste.
Ihre Schauspieler rauchen wahrscheinlich auch nicht mehr?
Nein, das ist es nicht. Piccoli rauchte nicht. Er hat es im Film nur getan, weil ich geraucht habe. Béart dagegen raucht im richtigen Leben ununterbrochen, und sobald man anfängt zu drehen, will sie nicht mehr.
Ich habe irgendwo gelesen, daß Sie zum Film gegangen sind, weil Ihre Mutter das so wollte. Stimmt das?
Als Kind war ich sehr zerstreut und schlecht in der Schule. Wir waren vier Geschwister, aber meine Mutter hat sich nie Sorgen um mich gemacht. Sie hat immer gesagt: Ah, wenn er so zerstreut ist, dann ist das Ausdruck eines künstlerischen Wesens. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wovon sie redete. Ich bin in der Schule durch alle Prüfungen gerasselt und habe mich furchtbar geschämt. Aber meine Mutter sagte: Nein, das ist doch wunderbar. Mach dir keine Sorgen. Sie ist mit mir zur Kunsthochschule gegangen und hat mich die Aufnahmeprüfung für Bildhauerei machen lassen, die ich als Bester bestanden habe. Für mich war das eine riesige Überraschung, aber sie war überhaupt nicht erstaunt.
Ich war entsetzlich schüchtern, ich konnte nicht einmal richtig sprechen. Nicht mal mit Lesen konnte ich etwas anfangen. Ich habe erst mit 17 angefangen, Bücher zu lesen. Ich hatte überhaupt keinen Wortschatz. Es gab nur zwei Dinge, die mich interessierten: die Musik von Bach und die Bildhauerei. Ich war in einer sehr strengen Schule, wo wir alle Uniform tragen mußten. Ich fühlte mich sehr unwohl dort. Sie hatten allerdings einen guten Chor, mit einem sehr guten Chorleiter. Ich hatte einen schönen Sopran und habe festgestellt, daß sich meine ganzen Integrationsschwierigkeiten auflösten, sobald ich in einem Chor war, zusammen mit anderen Stimmen. Ich habe es nie ertragen, meine Stimme allein zu hören. Und jetzt, wo ich 71 Jahre alt bin, stelle ich fest, daß in meinen Filmen die grundlegenden Einflüsse heute noch die musikalische Struktur sind, die eine des 18. Jahrhunderts ist, und die Bildhauerei.
Und wie brachte Mutter Sie dann zum Film?
Meine große Liebe war die Bildhauerei, aber damit konnte ich nichts verdienen. Also habe ich angefangen, alle möglichen albernen Jobs zu machen. Ich habe in der Provinz in einem Büro gearbeitet und wäre dort auch hängengeblieben, wenn meine Mutter mich nicht gezwungen hätte, die Aufnahmeprüfung für die Idhec [Pariser Kinohochschule] zu versuchen. Ich wurde tatsächlich aufgenommen, aber nach einem Jahr habe ich mich so gelangweilt, daß ich wieder abgegangen bin. Dann habe ich Musikkritiken geschrieben, vor allem über Jazz. Und dann habe ich einen Kurzfilmemacher kennengelernt, bei dem ich das Mädchen für alles war. So bin ich dann doch zum Film gekommen.
Und zum Drehbuchschreiben. Mit den Wörtern hatten Sie dann keine Schwierigkeiten mehr?
Ich mußte ja irgendwie damit fertig werden. Während der Besatzungszeit gab es diesen Arbeitsdienst. Ich habe mich ins Jura geflüchtet, wo Freunde von mir in einem Zentrum für Kinder von Straftätern gearbeitet haben. Und da mußte ich aus mir herausgehen, weil ich mich mit diesen Kindern beschäftigen mußte. Das hat mir Selbstvertrauen gegeben. Es waren sehr schwierige Kinder. Um sie zum Einschlafen zu bringen, mußte man sich für sie Geschichten ausdenken.
Wenn Monsieur Arnaud sich im Film zurückerinnert, scheint es fast so, als würde er über eine andere Person sprechen. Geht Ihnen das auch so?
An einem Tag bin ich es, an einem anderen ist es ein Fremder. Mit dem Alter kommt es automatisch, daß man sich selbst perspektivischer sieht. Menschen wie Monsieur Arnaud, der allein lebt, wie in einer Festung, nur umgeben von seinen Büchern, fast ein Menschenfeind, der hat eine fast schon lächerliche Distanz zu sich selbst. Arnaud sieht das Leben wie einen Fluß an sich vorüberziehen. Es ist leer geworden. Das ist der Preis für seine frühere Frauenfeindlichkeit und Misanthropie. Aber er erträgt es mit großer Eleganz.
Für einen Menschenfeind ist er ziemlich neugierig. Wenn er Nelly das erste Mal im Café trifft, stellt er sehr indiskrete Fragen – nach ihrem Mann, ihrer finanziellen Situation –, er fragt sie richtig aus.
Gleich in der ersten Einstellung sitzt er nachmittags in diesem Restaurant. Man merkt sofort, daß er sich tödlich langweilt. Er meint, daß er nichts mehr zu erwarten hat. Aber unbewußt ist er zu allem bereit. Und als er dann diese reservierte, verletzliche junge Frau kennenlernt, da schmeißt er sich fast auf sie, als müßte er 70 Jahre seines Lebens nachholen. Da kann er noch so gut erzogen sein – unbewußt verhält er sich lieber ungeschickt, um die Beziehung herzustellen.
Warum macht er keine Annäherungsversuche?
O nein, er will nicht! Er hat Angst. Er ist körperlich sehr zurückhaltend, fast verklemmt. Er ist glücklich, daß er das Buch als Vorwand hat. Und er sagt sich, na ja, wenn es sie wenigstens amüsiert, ist das schon mal was. Dann kommt sie vielleicht wieder.
Sie sprechen mit den Schauspielern am Anfang nie über die Rolle, immer nur über sie selbst. Wie war das mit Serrault? Er ist ein alter Profi. Macht er bei so was mit?
Als wir das Drehbuch geschrieben haben, hatten wir keine Ahnung, wer die Rolle spielen sollte. Es gab sogar einen Moment, wo wir dachten, wir machen den Film nicht. Wer soll das spielen? Und dann schlug der Produzent Serrault vor, aber ich sagte: „Ah, Serrault, Serrault! Ich weiß ja nicht mal mehr, wie der aussieht.“ Dann haben wir uns getroffen, und Serrault guckte mich mit großen Augen an: „Glauben Sie wirklich, daß ich das spielen kann?“ Dieses Verhalten war der Figur schon so nah! Als wollte er mir schon beim ersten Treffen zeigen, daß er Monsieur Arnaud spielen kann.
Und danach?
Während der zwei Monate, in denen wir uns getroffen haben, haben wir nur über persönliche Dinge gesprochen, besonders Versagensängste. So entsteht Vertrauen.
In Ihren Filmen gibt es selten eine Story, sie beschreiben mehr Augenblicke der Verwirrung. Wie sieht dann Ihr Drehbuch aus? Wie beschreiben Sie beispielsweise die Szene, wo Monsieur Arnaud neben der schlafenden Nelly sitzt. Steht dann da einfach: „Monsieur Arnaud betrachtet Nelly.“?
(lacht) Es steht nicht viel mehr drin. Außer daß natürlich sie sich an einem gewissen Punkt umdreht, die Augen aufmacht und ihn ansieht. Das ist extrem wichtig, denn in diesem Moment schließen sie einen Pakt. Interview: Anja Seeliger
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen