Sterben im Waisenhaus

■ Britischer Außenminister in China. Peking und London streiten wegen britischen TV-Films über Zustände in Heimen

Dublin (taz) – Die britische Regierung bereitet sich auf den geordneten Rückzug vor: In 540 Tagen, am 1. Juli 1997, fällt Hongkong an China zurück. Danach sei man machtlos, was die Kronkolonie angehe, gab der britische Außenminister Malcolm Rifkind in Hongkong zu. Von seinem chinesischen Amtskollegen Qian Qichen hat der Brite, der seit Montag Peking besucht, nur ein einziges konkretes Zugeständnis erhalten: beim Aufenthaltsrecht. Wer will, darf in Hongkong bleiben.

Rifkind, der gestern mit Premier Li Peng sprach und heute mit Präsident Jiang Zemin zusammentrifft, monierte chinesische Menschenrechtsverletzungen, die Tibetpolitik und die Verurteilung des Dissidenten Wei Jingsheng.

Über ein Thema hat es heftige Auseinandersetzungen zwischen Peking und London gegeben: China versuchte bis zuletzt, die Ausstrahlung eines Dokumentarfilms über die Situation in chinesischen Waisenhäusern im britischen Fernsehen zu verhindern. Die Sendung würde „die Beziehungen zwischen beiden Ländern vergiften“, erklärte das Außenministerium in Peking. Chinas Botschafter in London wurde noch vor der Sendung am Dienstag bei Channel 4 vorstellig und verlangte die Absetzung der Dokumentation, ohne Erfolg.

Der Film „Return to the Dying Rooms“ von Brian Woods belegt die Behauptungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch/Asia (HRWA), wonach Tausende Kinder jedes Jahr in chinesischen Heimen an Unterernährung, Mißhandlung und Vernachlässigung sterben (siehe taz vom 7. 1.). Den Kameraleuten von Channel 4, die sich als britische Waisenhausangestellte ausgegeben hatten, gelang es, mit versteckter Kamera in einem „Sterbezimmer“ zu drehen: Ein etwa siebenjähriges Mädchen, die Augen stark vereitert und zum Skelett abgemagert, lag reglos auf einer Holzpritsche und wartete auf den Tod – er kam vier Tage nach den Aufnahmen.

In der anschließenden Fernsehdiskussion waren die Meinungen geteilt. Philip Baker, Fluchthelfer für chinesische Dissidenten, sagte, die Regierung in Peking wisse um die Zustände und vertusche sie. In dem Film werden schwere Anschuldigungen gegen den damaligen Parteisekretär in Schanghai und heutigen Vizepremier, Wu Bangguo, erhoben. Er soll eine Untersuchung verhindert und Unterlagen vernichtet haben. Elisabeth Croll, Professorin für orientalische und afrikanische Studien, warf Woods dagegen Unfairness vor: Er habe die schlimmsten Fälle gefilmt und wolle nun verallgemeinern. Es gebe jedoch keine offizielle Strategie, die verlassenen Kinder – wegen der chinesischen Ein- Kind-Politik sind es vor allem Mädchen oder Behinderte – verhungern zu lassen. In Großbritannien hat der Film einen Run auf die Adoptionsstellen ausgelöst: Hunderte erkundigten sich nach Möglichkeiten, ein chinesisches Waisenkind aufzunehmen. Ralf Sotscheck