Rohrbruchartiger Dünnschiß

■ Peter Rühmkorf las in der Freien Akademie der Künste

So malade er sich häufig schildert, so trat Peter Rühmkorf doch ganz offensichtlich gut erholt am Donnerstag abend in der Freien Akademie der Künste hinters Lesepult und stellte sich samt seinem persönlichen Zeitroman Tabu I der Öffentlichkeit. Doppelt keß, möchte mensch meinen, daß da einer mit intimsten, zugleich aber auch mit aller Wortkunst verfochtenen Aufzeichnungen vor die Leute tritt.

Und das tat er nun seit Erscheinen des Tabu I im vergangenen Herbst schon zum dritten Mal in seiner Heimatstadt Hamburg: „Der Selbsterklärer als Volkserzieher“, dem daran liegt, „auf die sachlichste Weise subjektiv zu bleiben“, und die „Aufgabe der Kunst“ darin sieht, „die Wahrheit trotzdem als Fiktion“ aufrechtzuerhalten, wie er im Mai 1990 in seinem Tagebuch notiert hatte.

Eine neue „bunte Mischung“ hatte er daraus für den Abend zusammengestellt, trug seine Poesie über die Elbe bei Hochwasser vor – „Schön auch der Blick auf die lüstern durch den Lattenzaun schlappenden Flutzungen, als ob es im Gärtchen Milch und Honig zu schlecken gäbe . . .“ – oder rief die Erinnerung wach an nicht gerade bunt gemischte Gefühle aus Zeiten der Wiedervereinigungsbesoffenheiten, an „. . . Verhältnisse wie auf dem Kiez: erst locken, anmachen, schöntun, dann die alle Grenzen brüderlicher Hilfeleistung überschreitende Ausplünderung“.

So überaus schön daheim im Kämmerchen zu lesen sind seine zum Zeitroman geronnenen Tagebücher, und doch ist es noch ein bißchen schöner, sich die Texte von Peterchens Rühmkorf selbst mal vorlesen zu lassen. Wenn er, etwas näselnd und leicht ins selbstironische Psalmodieren geratend, von allergischen Reaktionen auf einen Wespenstich berichtet und anschließend die Warteschlange der wahrhaft Bresthaften im Altonaer Krankenhaus heraufbeschwört, kichern die literatursinnigen Mediziner im Publikum. Da können sie schließlich auch noch was lernen über lebensnahe Symptombeschreibungen wie die eines „rohrbruchartigen Dünnschisses“.

Natürlich wimmelt es in den Tagebüchern des Dichters nur so von kleinen Gedichten – wie denn auch sonst? Und daß er als leidenschaftlicher TV-Konsument das product-placement für die Poesie entdeckt hat – „Für die Realisation dieser Verse danken wir Long Wood, Steuerrad, Clarke–s . . .“ –, überrascht nicht; Rühmkorf versteht sich vielmehr darauf, damit einige Heiterkeit zu verursachen.

Immer der sich dezent zurücknehmende Entertainer, las er in der Freien Akademie am Klosterwall nichts Verfängliches über pissende berühmte Nachbarinnen oder gesetzeswidrig geliebte Hanfpflänzchen, sondern lauter lautere Schilderungen vorzeigbarer Ereignisse. Dadurch blieb allerdings zum Glü-glü-glück / nach dem Vortrag auch noch genug zum Selberlesen und Entdecken zwischen den Buchdeckeln zurück.

Julia Kossmann