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Was geht uns schon Kirgistan an?

Hier ißt man Schafsköpfe. So steht es in fast jedem Zeitungsartikel. Man braucht halt eine griffige Metapher für die Fremde. Eine Busreise fast ohne Schafsköpfe durch das gebirgige Land am äußersten Südostrand Zentralasiens  ■ Von Odila Triebel

In Kirgistan ißt man Schafsköpfe. Das kann man in Deutschland fast in jedem Zeitungsartikel über dieses Land lesen. So ist man dann vorbereitet für die große Reise, weit weg, bis nach Zentralasien, an die Seidenstraße, in die ehemalige Sowjetunion. Die Ohren der Schafsköpfe sind für die Kinder bestimmt, die Zungenspitze für die Frauen, die Augen für den Hausherrn und den Gast, mit dem er die meisten Anschauungen teilt.

Schafsköpfe also. Ob man dort auf dem Boden sitzt? Von zehn Kindern umringt und mit der Hand aus einer Schüssel den Reis nimmt? In der Gastfamilie gibt es orangene Tapeten, eine Schrankwand, gesammelte Pralinenschachteln, ein Wellensittichposter an der Tür – es sieht aus wie in Thüringen früher. Zum Begrüßungstee stehen auf dem Tisch scharfe koreanische Salate, und im Fernseher läuft der Vietnamkrieg. Szenen aus „Forrest Gump“, wie sich herausstellt. „Haben Sie geschlafen?“ „Sind Sie verheiratet?“

Direktflug Hannover – Bișkek. Siebeneinhalb Stunden. In europäischen Atlanten ist die Hauptstadt Bișkek meist immer noch als Frunse eingetragen. Dabei heißt sie seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 nicht mehr nach dem russischen General, sondern wieder Bișkek, Löffel. An schönen Tagen bietet die Stadt ein herrliches Schneepanorama, sonst dominiert im Winter die Farbe grau: Straßen, Schuhe, Fenster, Gesichter. Weißer Marmor aber an der Hauptpost, dem Regierungsgebäude, dem Roten Platz. In den Außenbezirken gestampfter Boden mit gefrorener Spucke und Kernhülsen von Sonnenblumen. In der Innenstadt breite, gepflasterte Bürgersteige und fehlende Kanaldeckel. Letzteres soll schon viele Hauptstädter einen heilen Knöchel gekostet haben.

An jeder größeren Straßenkreuzung gibt es einen Markt, auf dem es fast alles für den Alltag zu kaufen gibt. Manche Menschen hocken an abgeschnittenen Kanisterpfannen und backen in heißem Öl Pjelmeni, Teigtaschen. Es gibt auch Kognak und bunte Gewürze, Samoware, Taschenrechner und plattgedrückte geräucherte Hühner. Und jede Menge Chinaplastik und -elektronik. Snickers gibt es, Tempo-Kekse aus der Türkei und den Otto-Katalog. Und meistens Käse. Immer aber Fleisch. Auf Autokühlern oder in der zentralen Fleischhalle. Rinderschenkel, alle Mägen, Rinderfüße, Lammkoteletts. Und Schafsköpfe.

Welche Spuren weisen auf die Nomadenzeit, die vor 70 Jahren zu Ende ging? Dem weitgereisten Gast, der länger bleibt, wird in der Hauptstadt tatsächlich ein Schaf geschlachtet. Es gibt die Rippen, die Flanken. Zum Frühstück dann die Innereien mit Nudeln. Am Mittag drauf das Fett mit gerösteten Zwiebeln. Der Kopf bleibt fern.

Manchmal wird in der Hauptstadt aus dem alten kirgisischen Manas-Epos gesungen. Das ist das längste Nationalepos der Welt, ein Mehrfaches der Ilias. Bis in die zwanziger Jahre wurde es nur mündlich überliefert. Ein gleichmäßiger Rhythmus, dem Galopp ähnlich. Eine kräftige Stimme mit tiefem Resonanzraum, die sich manchmal eigentümlich überschlagend von oben dem Rhythmus annähert. Dazu eine Gestik, die Krieg und Alltag andeutet, zum Beispiel das Satteln eines Pferdes.

Jurten, die alten zusammenlegbaren Häuser der Nomaden, sind in der Stadt aufgebaut, allerdings nur im Museum. Filzteppiche und dicke Sitzdecken mit Samtapplikationen. Wunderschöne Bordeaux- und Blautöne. Alle Muster deuten ein Schafshorn an.

Mit öffentlichen Bussen kommt man im ganzen Land herum. Windschutzscheiben sind gesprungen, Böden durchgerostet, manchmal hängt die Achse durch. Aber immer kommt der Bus an. Einmal die Nordseite des Gebirgssees Issykkul entlang durch die Dörfer bis Karakol zum Beispiel, ein Wochenendausflug von Bișkek aus. Pferde knabbern im Vorgarten, Jungen rennen mit dem Bus um die Wette. Lange Ferienkolonien ziehen sich am Ufer entlang. Diese „blaue Perle“ war sowjetisches Urlaubsparadies. Klarblau liegt der See in der warmgelben Grasebene. Seine metaphorische Eindrücklichkeit aus Aitmatows „Der weiße Dampfer“ gibt dem Anblick Bedeutung. Und das radioaktive Material, von dem geschrieben wird, daß es im See unzureichend geschützt lagert.

Acht Busstunden von Bișkek sind es bis in die südöstliche Region Naryn. China liegt sozusagen vor der Tür. Die Wegstrecke durch das Tian-Shan-Gebirge ist eine der schönsten Kirgistans. Der wuchtige Himalaya-Ausläufer hebt sich plötzlich aus der Steppe. Bizarre Felsen und Grate, die wie hingeweht aussehen. Rotbraune Töne und Schnee, grünes Gestrüpp und metherhohe weiche gelbe Gräser. Stundenlang fährt die Marschrutka, ein Kleinbus, durch steinige Bergwüsten. Der Baumbestand ist seit den dreißiger Jahren auf die Hälfte reduziert. Trotzdem wird hier demnächst auf Initiative der Unesco fast das ganze Gebirge unter Naturschutz gestellt und in das „Man and the Biosphere Program“ aufgenommen. Wegen des selten gewordenen Reichtums an endemischen Arten und als Klimaschutzzone für die ganze Welt.

Naryn. Die drittgrößte Stadt Kirgistans mit 77.000 Einwohnern wurde als Garnisonsstadt im letzten Jahrhundert von Russen gegründet. In Naryn könne man nichts kaufen, hatte jemand am Issykkul gesagt. Das stimmt nicht ganz. Aber die Käse-, die Wurst- und die Milchfabrik liegen still. Ersatzteile fehlen, die früher aus anderen Sowjetrepubliken kamen. In den umliegenden Dörfern und alten Kolchosen ist ein geschenkter Apfel ein großes Glück. Zeichen von Mangelernährung gibt es bei den Kindern. „Hier wachsen nur Schafe“, sagen die Menschen.

Nächstes Reiseziel ist der in Kirgistan weithin ungeliebte Süden. Vor drei Jahren gab es in Oš, der größten Stadt der Region, einen Bürgerkrieg mit mehreren hundert Toten. Ein Streit um Bauland zwischen Usbeken und Kirgisen. Die Hälfte der Bevölkerung sind Usbeken, die andere Hälfte Kirgisen. Oš liegt im Fergana-Tal, der fruchtbarsten Ebene Kirgistans. Hier wachsen Maulbeerbäume, Äpfel, Kirschen, Aprikosen. Vom Norden trennt die Menschen eine riesige Gebirgskette. Im Winter ist der einzige Paß dicht. Man muß den Bus durch Kasachstan und Usbekistan über Taschkent nehmen. 17 Stunden dauert das im Bus von Bișkek. Oder man nimmt das Flugzeug. Das kostet ein knappes Monatsgehalt einer Lehrerin; Ausländer müssen viermal soviel zahlen.

Kleine weiß-blaue Häuser liegen zu Füßen eines alten, spitzen Kultberges. Viele Straßen sind von Aprikosenbäumen gesäumt. Im April schneit es Blütenblätter. Bei Dunkelheit flackern Feuerstellen vor den Häusern, an denen gekocht wird. Seit drei Jahren gibt es kein Gas mehr und kaum noch Strom. Nichts Besonderes in Kirgistan, wo doch die meisten Regionen weder Gas noch Strom haben. Im Gegensatz zu den Lehmhäusern aber, in denen dort die Menschen leben, wohnen in Oš aber die meisten Menschen in vierstöckigen Betonhäusern. Durch drei heizungslose Winter sind sie feucht, kalt und verklebt geworden. Kein Wunder, daß das Brot verschimmelt.

Deshalb also die Idylle auf den Straßen: Die Menschen sind da, um sich aufzuwärmen. Aber auch, um zusammen zu sein. Jeder kennt jeden im Viertel. Über jeden Unbekannten wird gesprochen. Denn der Bürgerkrieg wird erinnert. Kirgisische Frauen gehen immer noch außen um die usbekischen Wohnviertel herum.

In Oš befindet sich eine Station für Pestprophylaxe. Die Kindersterblichkeit, schätzt die Ärztin Asajewa, liegt bei 50 Prozent. Tuberkulose und Hepatitis seien die Hauptursache. Vor zehn Jahren, sagt Asajewa, hätten es noch deutlich weniger Fälle gegeben. Damals habe man mehr Vitamine bekommen. Auch bei ihr zu Hause ist es kalt, feucht und dunkel. Wer hier vorbeikommt, mutmaßt sie, der könne doch nur Journalist oder Spion sein. Vor einem Jahr starb ihr Mann. Früher lebten sie acht Jahre lang in Sibirien. Ihr Mann war Gefängnisarzt in Nowosibirsk. Wieder zurück in Bișkek. Allmählich kommt hier im „Norden“ die Sonnenwärme durch. Unter einem Holzpavillon ist es warm genug, um mit Blick auf die Berge Tee zu trinken. Und Plof zu essen, ein Reisgericht mit Möhren und Hammelfleisch. Bei den letzten Bissen kommt ein alter Mann mit einer Tüte und fragt, ob er etwas von dem Essen mitnehmen dürfe.

Dinara, angehende Volkswirtin, erzählt von ihrer Freundin. Eine Geschichte von unverheiratetem Zusammenleben, Trennung, Verachtung. Ausgenutztes Vetrauen, Vergewaltigung, erneutem Leben bei den Eltern. Dann Ehe mit irgendeinem andern. Und Verstoßung. Nach zwei Jahren war immer noch kein Kind gekommen. Ihr Mann beschuldigte sie, abgetrieben zu haben. Also wieder zurück zu den Eltern. Vergewaltigungen kämen fast nie zur Anklage, sagt Dinara. Die Frauen dächten, es wäre ihre Schuld. Und sie und ihre Familie dächten, daß sie mit diesem Makel nie werde heiraten könne. „In Deutschland habt ihr doch einen Verein. Das brauchen wir hier auch. Frauen müssen in einer Gruppe sein.“

Dinara weiß aber auch, daß es in Deutschland so sauber ist, daß man auf der Straße weiße Hosen anziehen kann. Sogar zwei Tage hintereinander. Manchmal schnippst sie Neue Deutsche Welle: „Eins zwei Polizei, drei vier Grenadier, fünf sechs – nicht „alte Gags“. „Falsche Sex“ und „alte Keks“ hatte sie verstanden. Ob in Deutschland Krieg zwischen Deutschen und Türken sei, möchte sie wissen. Dinara hat von einer Rußlanddeutschen gehört, daß in Deutschland die Schichten streng getrennt seien. Die Menschen mit dunklen Augen und Haaren seien besser und intelligenter und würden bestimmen, wo es langgeht. Ob das richtig sei, fragt sie.

Nur einen Kopf mit gekochten Rinderhufen gab es in Kirgistan während dieser Reise auf einem Volksfest zu sehen. Nie gekochte Schafsköpfe. Aber diese Metapher leisten wir uns halt für die Fremde.

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