: Berlin prescht vor: Bosnier raus!
■ Entgegen den Zusagen von Innenminister Kanther erhalten Kriegsflüchtlinge bereits Ausweisungsbescheide
Genf/Berlin (taz) – Trotz anderslautender Erklärungen von Bundesinnenminister Manfred Kanther auf der Genfer UNO-Flüchtlingskonferenz vom 16. Januar hat das Land Berlin „geduldeten“ Kriegsflüchtlingen aus Bosnien die „zwangsweise Ausreise“ angedroht. Der taz liegt ein Schreiben des Berliner Landeseinwohneramtes vor, das einem bosnischen Flüchtling am 15. Januar „ausgehändigt“ wurde. Unter ausdrücklicher Berufung auf den Beschluß der Innenministerkonferenz (IMK) vom 15. Dezember, den Abschiebestopp zum 31. März auslaufen zu lassen, wird dem Flüchtling in dem Schreiben die Duldung „letztmalig für sechs Monate erteilt“ – das heißt bis zum 15. Juli. Einer Berliner Beratungsstelle für Bosnienflüchtlinge liegen mindestens 15 weitere solcher Ausweisungsbescheide vor.
Bundesinnenminister Kanther sowie der Vorsitzende der IMK, Hamburgs Innensenator Hartmuth Wrocklage, hatten letzte Woche in Genf die volle Übereinstimmung der deutschen Politik mit dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) betont. Das UNHCR tritt entsprechend den Bestimmungen des Dayton-Abkommens für die „freiwillige Rückkehr“ der Flüchtlinge nach Bosnien ein, abhängig von den realen Bedingungen vor Ort. Konkrete Fristen sowie den IMK- Beschluß vom 15. Dezember erwähnten die beiden Minister bei ihrem internationalen Auftritt nicht. Flüchtlingshochkommissarin Sadako Ogata wurde versichert, die deutschen Behörden verzichteten zumindest vorläufig auf Fristsetzungen und Zwangsmaßnahmen, um Flüchtlinge zur Ausreise zu bewegen.
Das Berliner Landeseinwohneramt droht, daß „im Falle nicht fristgemäßer Ausreise“ es diese „zwangsweise durchsetzen müsse“. „Vorsorglich“ macht die Behörde den Flüchtling „darauf aufmerksam“, daß der „Aufenthalt im Bundesgebiet ohne die erforderliche Genehmigung oder Duldung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft werden kann.“ Die Strafbarkeit werde auch durch die Einlegung von Rechtsmitteln gegen diesen Bescheid „nicht beseitigt“. Widerspruch muß innerhalb eines Monats eingelegt werden. Sie kostet den Flüchtling eine Vorabgebühr von 60 Mark, hat aber „keine aufschiebende Wirkung“.
In Berlin leben derzeit zwischen 25.000 und 30.000 Flüchtlinge aus Bosnien. Davon sind – wie auch im übrigen Bundesgebiet – die große Mehrheit „geduldet“ nach Artikel 54 Ausländergesetz. Genaue Zahlen gibt es nicht; Schätzungen des UNHCR liegen bei 60 bis 80 Prozent. Ähnliche Maßnahmen wie die des Landes Berlin wurden bislang nur in einer Gemeinde in Hessen angewandt, die sie nach Bekanntwerden des Vorfalls aber wieder zurücknahm. Am kommenden Freitag will die IMK erneut über die „Rückführung“ der Bosnienflüchtlinge beraten.
Ein UNHCR-Sprecher kritisierte das Vorgehen Berlins gegenüber der taz als „verfrüht“. Ein „Ende für die Notwendigkeit vorübergehender Schutzmaßnahmen für Bosnienflüchtlinge (darunter fällt die Duldung) sei noch längst nicht absehbar“. Ein Pro-Asyl-Sprecher erklärte, mit den Berliner Bescheiden werde „unterminiert, was die Bundesregierung durch Kanther in Genf zugesagt hat“. Andreas Zumach
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