: Müde Beine, schwerer Atem
Drei Tage harter Wanderarbeit mit phantastischen Ausblicken: Auf dem Inka-Trail in den peruanischen Anden zum Machu Picchu ■ Von Andrea Stuppe und Achim Metz
Erster Tag
Kilometer 82 an der Bahnstrecke zwischen Cuzco und dem Machu Picchu. Unser klappriger Minibus hält. Wir sind 14 abenteuerlustige Reisende aus Neuseeland, Australien, England, den USA, Chile, Peru, Belgien und Deutschland. Vor uns liegen rund 55 Kilometer Wegstrecke. Führer Daniel Jessic Chávez Chacón, ein 22jähriger Medizinstudent und erfahrener Trekker, hebt den Arm – das Zeichen zum Aufbruch. Nach 20 Minuten müssen wir den wilden Rio Urubamba überqueren – in einer wackeligen Gondel. Der Pfad entlang des Urubamba schlängelt sich leicht nach oben. Ein phantastischer Ausblick: schroff abfallende Riesen der Anden zu unserer Linken, deren mit sanftem Grün bewachsene Ausläufer wie faltige Mäntel aussehen, an einer unsichtbaren Garderobe aufgehangen. Die Spitzen der Bergkämme leuchten schwarz vor hellblauem Himmel, hinter uns thront der Verónica, dessen 5.750 Meter hoher Gipfel von Schnee bedeckt ist.
Nach dem zweiten leichten Anstieg sehen wir von einem Plateau auf die erste bedeutende Ruine herab: Llactapata (Stadt auf einer Seite). Wir wenden uns südlich, verlassen das Urubamba-Tal und folgen dem Rio Cusichaca. Nach gut vier Stunden erreichen wir unser erstes Lager in rund 2.900 Metern Höhe. Die Landschaft ist in der tiefstehenden Sonne bezaubernd, grün dominiert an den Schrägen der Berghänge, unterbrochen von kahlen, ocker- und beigefarbenen steilen Stellen. Die unregelmäßigen Zacken und Kanten der Bergspitzen in dünne Wolken gehüllt.
Im Nu schlagen wir unsere fünf Zelte auf. Der Rio Cusichaca rauscht nur zehn Meter daneben. Das Abendessen ist reichhaltig: Suppe, Hühnchen, Reis und Salat. Um 20.30 Uhr steigen wir in die Schlafsäcke.
Zweiter Tag
6 Uhr aufstehen, Wäsche im Rio Cusichaca, Frühstück, einpacken – und schon geht's bergauf. Vorbei am kleinen Dorf Huayllabamba windet sich der in diesem Teil aus grobem Schotter bestehende Pfad unaufhörlich nach oben. Die ersten Schweißperlen rollen die Wangen runter.
Unser Weg biegt in westlicher Richtung ab, folgt dem Rio Llulluchapampa. „Mittag machen wir Rast an der Quelle des Flusses“, kündigt Jessic an. Das bedeutet weitere 800 Höhenmeter. Wir blicken das Tal hoch, zu jenem Punkt, den wir heute erreichen wollen: zum Abra de Huarmihuanusca, dem „Paß der toten Frau“, in 4.200 Metern Höhe. Das ständige Kraxeln wird immer schwieriger. Es geht über dicke Steine, Wurzeln. Nach jeder Biegung eine neue Steigung.
Wir keuchen. Nach dem Vorbild der Einheimischen schieben sich die meisten Leute einige Coca- Blätter in den Mund, die nicht nur gegen die Höhenkrankheit Soroche, sondern auch gegen Erschöpfung helfen sollen. Wir kauen auf den Blättern herum, bis ein bitterer grüner Saft freigesetzt und die Wange leicht taub wird. Geht es jetzt wirklich leichter, oder bilden wir uns das nur ein?
Die Beinmuskulatur ermüdet, jeder Schritt, jede Stufe fällt schwer. Wir sind froh, als wir schließlich gegen 12 Uhr unser Mittagslager erreichen. Ein kühler Wind bläst uns entgegen, die Sonne hat sich hinter dicken Wolken verzogen. Die Temperaturen fallen, ein leichter Eisregen geht auf uns nieder. Eifrig streifen alle ihre warmen Sachen über: Alpaca- Pullover, lange Hosen, Handschuhe, Mützen.
Der Aufstieg zum Paß: bereits nach wenigen Minuten ist die Gruppe gesprengt. Die Konditionsstarken vorneweg, Jessic bleibt bei den Nachzüglern. Ständig geht es hoch, wir müssen alle 30 Meter stehenbleiben und durchatmen.
Die letzten Meter: jeder Muskel unterhalb der Hüfte schmerzt. Noch fünf Stufen. Endlich oben! Wir lassen unsere Rucksäcke fallen, legen uns schweratmend ins Gras. Wie eine kleine Kolonie Ameisen kommt der Rest der Truppe den Berg hoch, langsam, schwerfällig. Carlos, ein fülliger Exil-Chilene, erreicht die Paßhöhe als letzter und bekommt einen dicken Applaus.
Der höchste Punkt des Trails. Die Sonne bricht aus den Wolken hervor, wir überblicken beide Seiten des Passes, haben eine wunderbare Aussicht auf die Giganten der Anden. Selbst hier auf über 4.200 Metern wuchert die typische Paramo-Vegetation mit ihren vielen niedrigen Gräsern und Büschen.
Noch jemand kommt den Berg hoch: Eustaquio Ayalah, der den Müll der Touristen auf dem Pfad einsammelt. Im Auftrag des nationalen Kulturinstituts INC. „Jeden Tag finde ich zwischen 10 und 15 Kilogramm Abfall, in der Hochsaison von August bis Oktober noch wesentlich mehr“, erzählt uns Eustaquio. Außer ihm sind weitere sieben Müllsammler im Einsatz. „Auf dem Pfad liegen Tonnen von Müll herum. Von den Touristen einfach weggeschmissen“, hatte uns Nieves Bardales Hoyos, Regionaldirektorin des Ministeriums für Industrie, Tourismus und internationalen kommerziellen Handel, berichtet. Doch das soll in Zukunft anders werden. „Zwei Toiletten werden am Pfad gebaut. Zudem sollen den Touristen bald Plastiktüten mit auf den Weg gegeben werden, in denen sie ihren Müll sammeln und dann am Sonnentor Intipunku abgeben können.“
Der Abstieg ins Lager Pacamayo auf 3.500 Metern wird noch mal zu einer kniffligen und steilen Angelegenheit. Wäsche im Fluß, Abendessen, wir kriechen hundemüde in die Schlafsäcke.
Dritter Tag
Mit dem Frühstücksbrot in der Hand blicken wir gegen 7 Uhr auf den nächsten Aufstieg, zum 4.000 Meter hohen Abra de Runkuracay. Wir machen halt an der gleichnamigen Ruine, rund 200 Meter oberhalb unseres Camps. Wir schnaufen wie alte Dampfloks. Unter unseren Füßen sind nur noch große, quadratische Steinblöcke. „Hier beginnt endgültig der königliche Inka-Pfad mit seinen vielen Treppen“, sagt Jessic.
Warum erst hier? Wo sind die andern schweren Steine geblieben, mit denen die Inkas vor Hunderten von Jahren den Weg befestigten? Alberto Miori, ein Bergführer aus Cuzco, beantwortet die Frage in Peter Frosts Buch „Exploring Cusco“: Sie wurden Opfer von Alkoholschmugglern. Diese umgingen in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit die offiziellen Routen nach Cuzco und damit auch die Transportsteuern. Die illegale Fracht wurde ab Pacamayo über den Inka-Pfad transportiert. „Die schwer beladenen und mit scharfen Hufen versehenen Maulesel müssen in dieser Zeit Teile des Inka-Pfades abgetragen haben. Deshalb fehlen die Steine zwischen dem Kilometer 88 und dem Camp in Pacamayo komplett“, erklärt uns Miori.
Um 9 Uhr stehen wir auf dem zweiten Paß, von wo aus der Weg wieder abwärts führt – zur Ruine von Sayacmarca, einer ehemals wichtigen Verwaltungsstelle. Von dort aus kontrollierten die Inkas die Handelswege in drei Tälern. Sayacmarca besaß mehrere administrative Gebäude: Dort trafen sich auch die Verwalter des Inka- Reiches aus verschiedenen Regionen, handelten Verträge aus, legten Zölle fest.
Jetzt folgt der schönste Aufstieg des Trails. Vorbei an Palmen, Farnen, Orchideen und anderen exotisch-bizarren Blütenpflanzen in Gelb und Rot, begleitet von schwirrenden Kolibris, schwebenden Falken und Adlern, nähern wir uns dem dritten Paß. Unwillkürlich flüstern wir nur noch, als könnte ein lautes Wort die Harmonie der Natur zerstören. Wir klettern durch ins Felsgestein geschlagene Tunnel, über kunstvoll angelegte, kilometerlange Treppen.
Oben auf dem Paß. Stumm vor Staunen blicken wir über das weite Urubamba-Tal. Die schneebedeckten Spitzen von Palcay, Salcantay und Pumasillo liegen vor uns, die Reste von Puyupatamarca links unter uns.
Nach dem Mittagessen geht's steil bergab. 800 Inka-Treppenstufen und durch Höhlen bis zur vierten Ruine des Tags, Winaywayna, neben Pisaq das wichtigste landwirtschaftliche Experimentiergut der Inkas. Dutzende von Terrassen im steilen Hang, angeschlossen an ein ausgetüfteltes Bewässerungssystem. Über verschiedene Kanäle wurden den Mais-, Kartoffel- und Cocafeldern eine genau berechnete Menge Wasser zugeführt.
Die Inkas waren perfekte Baumeister. Alle Häuserwände in Winaywayna neigen sich nach innen, was ihnen bei starken Erdbeben zusätzliche Stabilität verleiht. Selten ist in den vergangenen Jahrhunderten selbst bei schwersten Erschütterungen eine Inka-Mauer zusammengebrochen, im Gegensatz zu vielen Kolonialbauten der spanischen Eroberer. Die „Nahtstellen“ zwischen den teilweise tonnenschweren Steinen, die die Inkas mit Präzision in Form schliffen und aufeinandersetzten, sind kaum zu ertasten.
Nachtlager neben einer heruntergekommenen Jugendherberge. Ein Frevel, so einen häßlichen Kasten mitten in den Berg neben dieser wundervollen Anlage zu bauen. Einziger Vorteil: Gegen einen Sol (70 Pfennig) genießen wir den Luxus einer Dusche, die zwar kalt, aber dennoch sehr angenehm ist. Und abends vor dem Schlafengehen noch ein kühles Bier. Eine Wohltat nach den vielen im Flußwasser aufgelösten Schokodrinks.
Vierter Tag
Um 4 Uhr werden wir geweckt. Es war eine furchtbare Nacht. Unser Zelt stand auf einer Schräge, wir fanden kaum eine Minute Schlaf. Zudem übergab sich unser Mitbewohner Chris mehrere Male. Er hat schwere Magenprobleme, will aber trotzdem mit uns los. Das Frühstück ist spärlich, die Konfitüre ist alle, nur trockenes Brot. Um 5.30 Uhr tappen wir hinaus in die Dunkelheit.
Jessic legt ein gutes Tempo vor. Schließlich wollen wir vor den ersten Touristenbussen am Machu Picchu ankommen. Es wird hell. Wir laufen rund anderthalb Stunden. „Noch fünf Minuten, dann habt ihr's geschafft“, muntert uns Jessic auf. Die letzte Steigung, eine alte Inka-Treppe, dann sehen wir ihn: den Machu Picchu, noch im Schatten der Anden liegend. Hinter ihm der Huayna Picchu, der Junge Berg.
Wir kommen uns beinahe vor wie Hiram Bingham, jener Yale- Absolvent, der die Anlage im Juli 1911 für die Menschheit wiederentdeckte und nur vier Jahre später auch den Inka-Pfad und seine Ruinen. Allerdings sah Bingham nicht diese phantastische Anlage, sondern ein von Urwaldpflanzen überwuchertes Terrain. Einheimische, die die Stätte seit langem gekannt hatten, ohne ihre Bedeutung ermessen zu können, führten den Forscher in die Höhen oberhalb des Rio Urubamba.
Trotz der müden Beine rennen wir die rund 1.500 Meter vom Sonnentor Intipunku hinunter zum Haupttor. Die Sonne geht über den Gipfeln im Osten auf – perfektes Timing. Kurz vor 7 Uhr sind wir am Ziel. Der Inka-Trail liegt hinter uns, eines der schönsten Bauwerke der Menschheit vor uns: der Machu Picchu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen