: „Auf den Tag kommt es nicht so sehr an“
■ Sollen die Deutschen am Tag der Befreiung von Auschwitz der Nazi-Opfer gedenken? Der israelische Schriftsteller Uri Avnery über Routine und Erinnerung
taz: Finden Sie es sinnvoll, daß Roman Herzog den 27. Januar, also den Tag der Befreiung von Auschwitz, zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus ausgerufen hat?
Uri Avnery: So ein Gedenktag ist sinnvoll, wenn man Angst haben muß, daß die Ereignisse sonst zu schnell vergessen werden. Andererseits muß man sehr aufpassen, daß die Sache nicht versteinert, zur Routine gerinnt.
Bei uns gibt es solche Bedenken, bei Ihnen in Israel auch?
Nicht in der Öffentlichkeit, aber an den Stammtischen durchaus, speziell unter jüngeren Leuten. Aber die persönlichen Erinnerungen von sehr vielen Leuten, die noch heute in Israel leben, sind ja täglich um einen. Sogar bei unseren Popstars stellt sich plötzlich heraus, daß sie ihre Großeltern im Holocaust verloren haben. Bei uns besteht dennoch die Gefahr, daß viele Leute der Sache überdrüssig werden, daß sie es „nicht authentisch“ finden, von oben verordnet.
Peter Reichel, ein Kritiker des Gedenktags (taz vom 2. Januar) hat eingewandt, man hänge sich mit dem Datum – dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz – an die Erinnerung der Opfer, was dem Land der Täter schlecht anstünde.
Ich glaube, die Bundesregierung wäre besser beraten, nicht immer nur an die fremden Opfer zu denken, statt daran, was Hitler und die Nazis dem deutschen Volk selbst angetan haben.
Ich glaube, daß sehr viele Leute dem Schicksal Fremder eher gleichgültig gegenüber stehen. Wenn man sie zwingt, sich trotzdem zu identifizieren, führt das eben zu diesem Gefühl: Na ja, für die war Hitler vielleicht schlecht, aber für uns war er gut!
Man darf nicht vergessen, daß Hitler nicht nur Millionen von Deutschen umgebracht hat auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern, sondern auch letztlich die Zerstörung aller deutschen Städte zu verantworten hat. Ihm verdanken es die Deutschen, daß sie bis heute keinen wirklichen Nationalstolz haben wie andere Völker, daß sie mit ihrer Vergangenheit nicht zurechtkommen und so weiter. Man muß den Jungen zeigen, daß Deutschland ein Opfer seiner selbst war.
Würden Sie es ernsthaft akzeptabel finden, man gedächte der Opfer des Nationalsozialismus beispielsweise am Tag der Bombardierung Dresdens?
Man könnte auch den Tag der Machtergreifung nehmen oder den des Reichstagsbrands – es kommt nicht so darauf an, welchen Tag man wählt, sondern welchen Sinn man der Sache gibt.
In Israel wird ja der Holocaust- Gedenktag dadurch begangen, daß im ganzen Land zwei Minuten lang alles stillsteht. Man hört nur die Sirenen. Da es in Deutschland solche Rituale nicht gibt, muß man unseren heutigen Gedenktag gar nicht bemerken. Welche Form ist Ihnen lieber?
Kinos und Theater sind bei uns geschlossen, alles, was mit Vergnügen zu tun hat, wird gestoppt. Es ist schwer, das so rundweg abzulehnen. Schließlich kommen Generationen, die gar nichts mehr mit den Ereignissen zu tun haben. Was Israel betrifft, stellt sich die Frage ja ganz existentiell: Inwieweit soll der Holocaust überhaupt weiterhin das Geistesleben bestimmen? Ich finde, man muß sich mehr auf die Zukunft richten! Der Holocaust sagt den jungen Juden, daß die ganze Welt gegen uns war. Wir können niemandem vertrauen. Aus dieser Geisteshaltung kann man keinen Frieden mit seinen Feinden machen.
Was machen Sie am Holocaust- Gedenktag?
Wie alle Israelis lebe ich mein Leben weiter, ich stehe die zwei Minuten still, höre die Sendungen. Ich denke neu nach. Es sind ja noch immer entscheidende Fragen nicht beantwortet. Wie kam es dazu? Kann es anderen Völkern passieren? Kann es uns passieren?
Wo würden Sie an diesem Tag in Deutschland hingehen?
Ich würde wohl nach Hannover gehen, wo ich aufgewachsen bin, und an dem Mahnmal von Lea Rosh stehen. Vielleicht fände ich ein paar junge Leute, mit denen ich reden könnte.
Interview: Mariam Niroumand
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