: Nicht von der Welt getrennt
■ Constantin Floros Biografie über György Ligeti ist affirmativ, aber hilfreich
Neue Musik – das ist für viele ein inneres Verkrampfen unter orchestraler Kakophonie und gesanglichem Schmerz – oder die Erfahrung, daß moderne Klassik auch mal ganz flott klingen kann. Nur wenigen Komponisten scheint es gegeben, Musik zu schaffen, die zwar unerhört neu und originell ist, aber dennoch sinnlich wirkt und nicht vor allem kompliziert klingt. Jenen gehören in diesem Jahrhundert wohl Igor Strawinsky oder Béla Bartók an – gewiß György Ligeti.
Dessen ist sich auch Constantin Floros sicher, der dieser Tage eine Monographie über den in Hamburg lebenden Komponisten veröffentlichte: nicht die erste, aber wohl die zugänglichste Lektüre zu Ligeti und seiner Musik.
Das Buch ist keine kritische Schrift und entstand in enger Anlehnung an den Komponisten. Zahlreiche seiner Aussagen durchziehen stützend den Text. Und wie Geleitworte stellte Floros jedem der 32 Kapitel Zitate Ligetis voran. Nur einem einzigen nicht: „Neue Klangbilder – neue Semanteme“, das er mit einem Plädoyer für eine Analyse aufnimmt, die über die Struktur hinaus auch Sinn- und Bedeutungsinhalte der Musik untersucht. Dies ist eine Herzensangelegenheit Floros', dem Musik eine wortlose, doch beredte Sprache ist, in der der Künstler sich selbst und die Welt, wie er sie sieht, zum Ausdruck bringt.
So schreitet er vom Leben zum Werk – schildert Ligetis transsylvanische, behütete Kindheit, den Holocaust, der die halbe Familie vernichtete, die Budapester Jahre als komponierender Dozent und kommt schließlich zu den Kölner Avantgarde-Jahren Ligetis. Zu Beginn der 60er Jahre hatte Ligeti nicht alleine mit Klangkompositionen die serielle Musikwelt auf den Kopf gestellt, sondern zum Ende des Jahrzehnts eine hohe Popularität erlangt, als seine Musik in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey und auf einer Hör Zu-Schallplatte auftauchte. Ligeti, der in den 80er Jahren eine schöpferische Krise überwand, gelang es, seine Musiksprache permanent fortzuentwickeln – dennoch klang er stets persönlich.
Floros zeigt, daß Ligetis Musik nicht von der Welt abgetrennt existiert. Im Gegenteil: Seine extreme synästhetische Veranlagung sei ein Schlüssel zum Verständnis seiner Musik. Sie korrespondiert mit einem umfassenden Interesse, einer diesseitigen Neugier. Mittelalterliche Musik oder zentralafrikanische Literatur, bildende Kunst oder Wissenschaften, Einflüsse aller Provenienzen nimmt Ligeti auf und verwandelt sie in Klang. Bindende Kraft sei sein Sinn für's Komplexe, Vielfältige unter der Oberfläche. Ligeti selbst gesteht einen Hang zum Manierismus.
Floros nähert sich der Musik allmählich, schichtweise. Wenn der Leser den zweiten, umfangreicheren Teil erreicht, der sich dem Werk widmet, ist er bereits mit dem Substrat und grundlegenden Charakteren der Musik Ligetis vertraut.
Die frühe Schaffensphase skizziert Floros en bloc, widmet aber beinah jedem der seit Köln entstandenen Kompositionen ein eigenes Kapitel. Bei dieser chronologischen Abhandlung, die manche Werke, wie das Cellokonzert, nur streift, schreibt Floros auch eine Entwicklungsgeschichte des Ligetischen Kompositionsstils. Er zeigt, wie die Experimente mit elektronischer Musik sich etwa im Schlüsselwerk Apparitions niederschlagen, oder ein Cembalostück aus den 60er Jahren bereits den Keim zu den Klavieretüden von heute trägt.
Erstmals hatte ein Autor Einblick in die Skizzen Ligetis, von denen einige pittoreske Faksimiles den Band zieren. Sie erhellen die Genesis seiner Klangwelt. Doch Floros wagt vorsichtig weiterreichende Auslegungen zu Symbolgehalt und Bedeutung. In seinem unprätentiösen, leicht betulichen Stil enthüllt er, was die Geige im Grand Macabre zu bedeuten hat, wie sich Ligeti selbst porträtiert oder welche Aussicht die geistlichen Werke lassen. Dabei knüpft Floros immer wieder die Verbindung zum sinnlichen Erleben der Musik. So gelingt ihm ein seltenes Kunststück: Seine Analyse zerquetscht den Gegenstand nicht, die Beschreibungen wecken und erhalten das Interesse an der Musik.
Hilmar Schulz/Fotos: Henning Scholz
Constantin Floros: György Ligeti – Jenseits von Avantgarde und Postmoderne; Österreichische Musikzeit-Edition, Verlag Lafite, 248 Seiten, 48 Mark
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