piwik no script img

Hübsche Natur rundum

Dort, wo in Luckenwalde ein Biotechnologie-Park entsteht, stand bis 1945 ein riesiges Kriegsgefangenenlager, von dem fast niemand was wissen will  ■ Von Franco Zotta

Ein kleines Theater, eine Kegelsportanlage, ein Tierpark, dessen größte Attraktion Zackelschafe sind – Luckenwalde ist nicht gerade das, was man eine pulsierende Metropole nennt. Trotz des stolzen Hinweises in einer Besucherbroschüre, die Stadt sei seit „der Erfindung des Papptellers durch Hermann Hentschel im Jahre 1867 weltberühmt“, ist es eine verzeihliche Bildungslücke, von der 25.000 Einwohner zählenden Kreisstadt, 50 Kilometer südlich von Berlin, noch nie etwas gehört zu haben.

Sieht man von der Aufregung ab, die kürzlich die Aufstellung einer Gedenktafel zu Ehren des gebürtigen Luckenwalders Rudi Dutschke provoziert hat, verläuft das öffentliche Leben eher lethargisch. Die Arbeitslosigkeit lastet schwer auf Luckenwalde. Zu DDR-Zeiten eine Hochburg der Metallindustrie und traditionsreicher Stoff- und Hutfabriken, hat die Wiedervereinigung zu einem rasanten Niedergang geführt. Die beiden VEB „Volltuch“ und „Hutmoden“ sind ebenso verschwunden wie das Wälzlagerwerk, und mit der Feuerlöschgerätefabrik hat unlängst auch das letzte große Unternehmen aus realsozialistischen Tagen den Kampf um Marktanteile verloren und 130 Mitarbeiter entlassen müssen. Tiefer kann die Stadt nicht mehr sinken, und es überrascht nicht, daß bei den letzten Wahlen mit Peter Blohm ein Mann zum Bürgermeister gewählt wurde, der sich als OB des nahen Trebbin den segensreichen Ruf erworben hat, für Arbeitsplätze sorgen zu können.

Der Anfang, so scheint es, ist gemacht: das Rathaus ist restauriert, die Ernst-Thälmann-Straße umbenannt, und am nordwestlichen Stadtrand legen Bauarbeiter emsig die Fundamente für den „Biotechnologie-Park Luckenwalde“. In einem „ansprechenden natürlichen Umfeld“ möchte Projektleiter Christoph Weber mittelständische biotechnologische Betriebe ansiedeln. Ein „ansprechendes natürliches Umfeld“ – in der Tat, große Wälder, kleine Seen prägen den neuen Gewerbestandort, ein ideales Ambiente für Jungunternehmer, die die verheißenen blühenden Landschaften im Osten schaffen wollen. Vor mehr als 50 Jahren träumten viele Deutsche auch vom Osten, von riesigen „Weideflächen“ für eine blauäugig-blonde Herrenrasse, und sie schufen genau dort, wo der Biotechnologie- Park nun entsteht, ein „Gewerbegebiet“ ganz anderer Art.

Stalag III/A – das war die soldatisch-schmissige Abkürzung, unter der die Wehrmacht in Luckenwalde im September 1939 ein Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager einrichtete. Weit über 300.000 Soldaten aus ganz Europa, Australien und den USA waren bis zur Befreiung durch sowjetische Truppen im April 1945 im Stalag III/A interniert, phasenweise lebten an diesem Ort mehr als doppelt so viele Menschen wie in der Stadt außerhalb der Stacheldrähte. Vor allem die sowjetischen Gefangenen wurden wie Tiere behandelt von der Wehrmacht und der SS, die im Herbst 1944 die Leitung über die 80 Stalags im Reichsgebiet übernommen hatte. In dem Teil des Lagers, in dem sie kaserniert waren (für kurze Zeit auch Stalins Sohn Jakob Dschugaschwili), herrschten KZ-ähnliche Zustände. Folter, Exekutionen, Hunger, Kälte und Vernichtung durch Arbeit gehörten zu ihrem Alltag. Ihnen galt, neben den einstigen Verbündeten aus Italien, die ab September 1943 in großer Zahl in die Stalags des Wehrkreises III (Berlin und Umgebung) eingeliefert wurden, der ganze ideologisch getränkte Haß der Deutschen. Etwa 45.000 Menschen haben die Torturen im Stalag III/A nicht überlebt. Einige hundert Opfer beerdigte die Wehrmacht in Einzelgräbern neben dem Lager, die meisten Toten jedoch wurden in 38 Massengräbern verscharrt. Mit der Kapitulation Deutschlands endete das Morden – und zugleich geriet das Lager nach und nach in „Vergessenheit“. Allem antifaschistischen Pathos des Arbeiter- und Bauernstaates zum Trotz: Dieser grausige Teil Luckenwalder Geschichte war im öffentlichen Leben der Stadt zu DDR-Zeiten wenig präsent.

Auf den ersten Blick ein erstaunlicher Befund: Wo hätte besser gezeigt werden können, welche Greueltaten die Nazis an den Söhnen des sozialistischen Bruderstaates verübt haben, wäre ein besserer Ort denkbar, an dem die antinazistische und UdSSR-freundliche Haltung der DDR hätte demonstriert werden können? Doch stieß der realsozialistische Antifaschismus spätestens dort an seine Grenzen, wo vitale Interessen des sowjetischen Nachbarn im Wege standen. Noch Jahre nach Stalins Tod galt es in der UdSSR quasi als Landesverrat, wenn ein Rotarmist, wie es laut offizieller Militärdoktrin hieß, sich in deutsche Kriegsgefangenschaft begeben hatte. Luckenwalde war demnach kein Ort des grenzenlosen Leidens sowjetischer Soldaten, sondern eine unehrenhafte Episode in den Annalen des Großen Vaterländischen Krieges. Die Toten (und Überlebenden!) des Stalags waren ein Schandfleck in der Siegergeschichte der Roten Armee.

Doch auch so mancher Luckenwalder wollte, daß die Geschichte des Lagers nicht aufgearbeitet wurde. Während des Krieges hatten sich auf Antrag lokale Industrielle, Bauern und Handwerker der Kriegsgefangenen als kostenloser Arbeitskräfte bedient. Ohne den Einsatz der Gefangenen ging in der Kriegswirtschaft nichts mehr. Noch Ende 1944 errichteten Gefangene Wohnhäuser, die bis heute das Stadtbild zieren. Da die Stadt nach dem Krieg bis 1993 militärischer Stützpunkt der UdSSR war und zwei Garnisonen auf dem Stalaggelände wohnten, verschwand die Lagergeschichte im Nirwana zwischen den Scham- und Schuldgefühlen der örtlichen Profiteure und dem masochistischen Ehrenkodex der sowjetischen Armee.

Seit dem Mauerfall ist nichts mehr wie zuvor in Luckenwalde – der Umgang mit Stalag III/A hat jedoch traurige Kontinuität. Nirgends in der Stadt steht eine Hinweistafel auf den Standort des Lagers, das Touristenbüro hält keinerlei Informationen bereit. Im Heimatmuseum findet sich, zwischen DDR-Getränkeautomaten und einer Schau von Nähmaschinen, eine kleine Tafel, auf der in wenigen Sätzen – mit zum Teil falschen Angaben – einige Aspekte des Lagers vermerkt sind. Über die Ur- und Frühgeschichte Luckenwaldes erfährt man hier erheblich mehr als über die Umstände des grauenvollen Leidens und Todes Zehntausender von Menschen. Die jahrelange Anregung einiger Bürger, Memorialmaßnahmen zu ergreifen, hat das Museum unter Hinweis auf den Willen der Kreisverwaltung abgelehnt. Daß 1995 weltweit des Kriegsendes vor 50 Jahren gedacht wurde, war weder für die Museumsleitung noch für die Stadtverordnetenversammlung Anlaß, an die Befreiung des Stalags am 22. April 1945 zu erinnern: keine Ausstellung, keine Rede, keine Kundgebung, nichts. Sollte jemand dennoch den Weg zum Stalag finden, wird ihn der bedauernswerte Zustand, in dem sich der Friedhof am Rand des Lagers befindet, kaum noch verwundern.

Für Klaus Bukow, im Landkreis Teltow-Fläming zuständig für die Kriegsgräberpflege, ist die Auseinandersetzung der Stadt mit diesem Teil ihrer Geschichte von „Irritationen und Unsicherheiten“ gezeichnet. Man erinnere sich dieser Ereignisse nur ungern, die „historisch richtige Bewertung“ des Stalag bereite gewisse Schwierigkeiten, da das vorhandene Forschungsmaterial von DDR-Wissenschaftlern stamme und möglicherweise nicht frei von ideologischen Färbungen sei; und schließlich seien die zu DDR-Zeiten tabuisierten Erinnerungen an die Verbrechen, die ehemalige Stalaggefangene und die sowjetische Armee nach der Befreiung an der Bevölkerung verübten, noch sehr lebendig. So ist es eine eigentümliche Mischung aus Gedankenlosigkeit, Desinteresse und Angst, die dazu geführt hat, daß die stetigen Anstrengungen einzelner, den beschämenden Umgang mit diesem Teil der Luckenwalder Geschichte zu beenden, im Sande verliefen. Die Stadt hat größere Probleme als ihre Vergangenheit, und auf dem Weg zum Mittelzentrum zwischen Berlin und Sachsen-Anhalt wird, wenn es denn sein muß, auch eine frühere Nazifolterstätte in einen Biotechnologie-Park verwandelt.

Für Bauleiter Weber ist Kritik an dieser Standortwahl unverständlich. Den Hinweis, daß man zumindest die fünf noch erhaltenen Originalbaracken hätte bewahren und zum Museum ausbauen können (Ende Oktober sind sie abgerissen worden), wischt er rigoros vom Tisch. „Das ist doch Quatsch, wir brauchen Arbeitsplätze, keine restaurierten Baracken.“ Daß durch die Bauarbeiten wichtige Zeugnisse aus dem Lagerleben, von denen Heimatforscher glauben, daß Gefangene sie im Boden versteckt haben könnten, zerstört werden, beeindruckt ihn nicht. Er habe die Arbeiter gebeten, mögliche Funde in sein Büro zu bringen. Außerdem sei geplant, betont Weber, im Foyer des zu bauenden Kommunikationszentrums einige Tafeln und Vitrinen aufzustellen, um der Geschichte des Ortes, auf dem das Gewerbegebiet entstehe, zu gedenken. Zwischen Rezeption, Raucherecke und Damentoilette verkommt die Erinnerung an die 45.000 Toten zum skurrilen Ambiente für Managergespräche, die etwa die Optimierung gentechnisch präparierter Gemüse behandeln – eine makabre Vorstellung.

Weil sich aber die Stadt in den vergangenen Monaten zunehmender Kritik engagierter Luckenwalder ausgesetzt sah, ist, wenn auch zu spät, einiges in Bewegung geraten. Der Heimatforscher Dieter Noeske hat in regionalen Zeitungen mehrere Artikel über das Stalag veröffentlicht, die Stadtverordneten haben Herbert Bauer, den besten Kenner der Lagergeschichte, gebeten, ein Besucherinfo zu erstellen, und auf Initiative des Bildhauers Karl Späth wurde eine von Lagerinsassen gefertigte Christusfigur restauriert. Auch Hartmut Reck, Redaktionsleiter der Luckenwalder Rundschau, hat in einem Kommentar die Stadt aufgefordert, sich ihrer historischen Verantwortung angemessen zu widmen – nicht ohne darauf hinzuweisen, daß eine würdevolle Darstellung der Stalaggeschichte Besucher anziehen würde. So schließt sich der Kreis: Im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt ist das Stalag, ob als Gewerbegebiet oder als Touristenmagnet, in jeder Hinsicht ein Objekt der Begierde. Einige Luckenwalder, so scheint es, lernen langsam, aber dafür um so gründlicher ihre Lektionen in marktwirtschaftlicher Logik.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen