Hufeisen ohne Pferd

■ Über Xenophobie und die Unfreiheit des Denkens in Belarus

Der belarussische Dichter und Schriftsteller Valentin Taras erzählt von einer Geschichte, die er vor 25 Jahren geschrieben hat: „Das verrückte Abenteuer von Tuteischin“ („tut“ heißt „hier“, Tuteischin ist ein Mensch ohne Ursprung und Vergangenheit, einer, der nur im „Hier und Jetzt“ lebt).

„Das war die Geschichte eines Mannes, der einen großen Hunger nach Wahrheit hat, vor allem nach der Wahrheit über sich selbst.

Ständig quält er seine Kollegen, Nachbarn und besten Freunde mit der Frage: ,Was denkt ihr über mich? Was bin ich für ein Mensch?‘ Die Leute lachten entweder oder murmelten sich irgendeine unverständliche Antwort in den Bart.

Eines Tages, als Tuteischin um Bier anstand, fing er mit einem Veteranen, der sich vorzudrängeln versuchte, einen Streit an. Der Mann gab ihm mit seinem Spazierstock einen kräftigen Hieb auf den Kopf. Da machte es ,Klick‘ – und plötzlich hatte er eine erstaunliche Gabe gewonnen.

Von diesem Augenblick an konnte er hören, was jeder dachte. Jemand sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen, aber Tuteischin hörte genau, was dieser Mensch über ihn dachte. Leider war es nie etwas Freundliches. ,Was für ein Trottel‘, dachte der eine, ,Was für ein gräßlicher, schlampiger Typ‘, der andere. Und keiner war besonders zimperlich bei dem, was er dachte. Alle negativen Seiten Tuteischins wurden minutiös beleuchtet. Selbst seine Frau hatte keinen guten Gedanken für ihn.

Was also passierte? Nicht einen Moment lang dachte Tuteischin daran, daß er sich ja vielleicht verändern, irgendwie verbessern, in sich gehen könnte. Statt dessen bat er täglich Gott darum, daß er diese gräßliche Gabe so schnell wie möglich wieder von ihm nähme. Überall suchte er nach dem Rentner, der das alles ausgelöst hatte, und als er ihn endlich gefunden hatte, provozierte er ihn so, daß ihm der alte Soldat am Ende wieder mit dem Stock auf den Kopf haute.

Und wieder machte es ,Klick‘, und Tuteischin war wieder der alte. Nie wieder quälte er seine Freunde und Bekannten mit der Frage: ,Sag mal, was denkt ihr über mich? Was bin ich für ein Mensch?‘“

Taras sagt, daß er diese Geschichte natürlich nie hatte veröffentlichen können. Und setzt hinzu, daß es ihm vorkäme, als ob diese Phantasie heute in Belarus wahr geworden sei.

In den ersten Wochen und Monaten von Glasnost, als nur diejenigen, die in der alten sowjetischen Struktur ganz oben waren, angegriffen und exponiert wurden, machte den Leuten ihre neue Freiheit Spaß. „Aber je tiefer sie in diesen monströsen Eisberg, den man einen sozialistischen Staat nannte, vordrangen und sich genauer anguckten, was da zum Vorschein kam, desto deutlicher wurde, daß alles voll war mit dem Bazillus der Lüge, voll Parasitentum, Schlamperei, Unverantwortlichkeit, Gier und Xenophobie.

Der Eisberg ist geschmolzen, und die Leute fühlten sich unwohl auf ihrer kleinen posttotalitären Insel. Die ganze Gesellschaft und jeder einzelne hörte jetzt die ganze Wahrheit – und sie war bitter und schmerzlich.

Es stellte sich heraus, daß sie eine Last war, die nur tragen konnte, wer von der Vergangenheit befreit war und frei und unabhängig denken konnte. Und Taras zitiert: „Was ist die Freiheit der Rede ohne die Freiheit des Denkens? Ein Beutel ohne Inhalt, ein Hufeisen ohne Pferd.“

Taras brandmarkt eine Regierung, die der Presse des Landes den Maulkorb umbindet, damit die Bevölkerung die unangenehmen Wahrheiten der Vergangenheit nicht erfahre, und er hat auch wenig übrig für die, die diese Regierung gewählt haben. „Die Gesellschaft hat durch die Wahl Lukaschenkas gezeigt, daß sie auch nichts wissen wollte, was womöglich zu Schuldbekenntnissen, zu Reue, zu einem Gefühl von Verantwortlichkeit für die Verbrechen und Fehler des Staates hätte führen können.“ Kurz und gut, so Taras, ist es wohl so, daß wir alle immer nur Spiegel haben wollen, die uns das Bild, das wir von uns selbst haben, zurückspiegeln, und daß wir die anderen, die unser wahres Selbst zeigen, lieber zerschlagen. „Nicht nur Regierungen machen ein dummes Gesicht, werden wütend und trotzig, wenn sie sich objektiv gespiegelt sehen. Die meisten Menschen akzeptieren ja ihren ,Vater‘, ihren Präsidenten, und sind der Meinung, daß die, die ihn kritisieren oder sogar bespötteln, verprügelt werden sollten – oder sogar zum Tode verurteilt –, weil sie die Wahl des Volkes nicht respektieren.“

Was also ist zu tun? Sollen die Schriftsteller von Belarus einfach abwarten, die Köpfe unten halten und darauf warten, bis der Sturm sich gelegt hat? „Wir müssen die Wahrheit sprechen und schreiben und dabei wissen, daß die Wahrheit, obwohl sie nicht gewinnen wird, doch selbst unüberwindlich ist.“

Kann man sich also nur auf die Märtyrerrolle vorbereiten? „Wir sind wie der Mann in Eugène Ionescos „Rhinozeros“. Als alle um ihn herum zu Rhinozerossen werden und sich um sein Haus versammeln und brüllen, sagt er sich: ,Vielleicht ist es angenehm, ein Rhinozeros zu sein, von Vorteil, sogar schön. Ich wäre auch gern ein Rhinozeros. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht verleugnen. Ich kann nur ein Mensch sein.‘ Und er legt das Gewehr wieder weg...“ Judith Vidal-Hall