: Dank, Genosse Zametalin!
■ Unser Präsident, unser Vater - Pressefreiheit a la Belorus
Seit ein paar Tagen kriege ich die von mir abonnierten Zeitungen nicht mehr. Weder von der Post noch an den Kiosken von Sajusdruk, dem staatlichen Vertriebsmonopol. Alle Druckereien in Staatseigentum – und private gibt es in Belorus nicht – sind angehalten, ihre Verträge mit meinen Zeitungen zu annullieren. Unser Präsident oder Bats'ka (Vater), wie er sich selbst gern nennt, hat nämlich beschlossen, daß er sie nicht mehr braucht.
Er hat uns schon von einigem anderen Ballast erlöst: von unserer Fahne und dem Nationalwappen zum Beispiel; vom Parlament (das alte ist längst überfällig, sitzt aber immer noch; das neue hat noch zu wenige Abgeordnete, um sich konstituieren zu können), von der Immunität der Abgeordneten, von freien Gewerkschaften ... und so weiter, und so weiter...
Und trotzdem: Diese dummen Zeitungen greifen nach jedem Strohhalm. Jetzt haben sie angefangen, sich in Litauen drucken zu lassen, und versuchen, einen unabhängigen Vertrieb auf die Beine zu stellen; sie vergessen dabei offenbar, daß es noch immer Zöllner an den Grenzen gibt, an denen man vorbei muß und daß die Konten, die für alles einstehen müssen, jederzeit eingefroren werden können. Der Vater macht mit seinen Kindern, was er will.
Manche trösten sich mit dem Gedanken, daß dies Verhältnisse wie in Pinochets Chile sind. „Natürlich ist alles ein bißchen streng. Aber wartet nur noch ein wenig, und das Leiden wird ein Ende haben. Diktaturen funktionieren als Treibriemen für den Übergang zur Marktwirtschaft: Nicht die politische Freiheit, sondern die Wirtschaft boomt – und eines Tages sind wir alle reich.“ Vielleicht.
Aber ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht gibt es ja wirklich keinen Zusammenhang zwischen Menschenrechten, die den paar Intellektuellen so wichtig sind, und den wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten, die dem „Durchschnittsbürger“ näher sind. Vielleicht. Aber sehen wir uns eine typische Szene aus dem belarussischen Geschäftsleben an: Iwan Titenkow, Direktor des präsidialen Büros, schaut sich ein nettes Gebäude im Zentrum von Minsk an. „Das ist genau das richtige“, murmelt er. Am nächsten Morgen liest man in den Zeitungen ein Dekret des Präsidenten, das Titenkows Verwaltung eben jenes Gebäude zuschlägt. In den meisten Zeitungen wird hinzugesetzt, wie wohltätig für das gemeine Volk sich diese Maßnahme auswirken wird. Ein paar schwarze Schafe jedoch fangen tatsächlich an, über Titenkows Motive zu spekulieren. Und sie verstehen auch nicht, warum die Bank, die dem engsten Freund unseres Vaters gehörte, durch Vereinigung mit der größten Staatsbank vorm Bankrott gerettet werden sollte. Und natürlich füllen sie ihre Seiten mit absurden Vorstellungen darüber, was ein Staat ist und welche Aufgaben er hat. Und diese Zeitungen sind es, von denen ich nun endlich erlöst bin: Imja, Svaboda, Norodnaja Volja, Belorusskaja Gazeta und Belorusskaj Delovaja Gazeta. Danke, Genosse Zametalin! Natürlich gibt es noch die sechs offiziellen und halboffiziellen Zeitungen. Für diejenigen, die sich für mehr interessieren, als die unendliche Weisheit unseres Präsidenten und die Kartoffelernte samt der gesamten Milchproduktion der Republik, sind sie nicht weiter von Interesse. Von diesen sechs beachtet nur die mit einer einigermaßen pluralistischen Vergangenheit bedachte Narodnaja Gazeta bei ihren Schmeicheleien Richtung Vater die Regeln des Anstands – was nicht heißt, daß sie wagt, ihn zu kritisieren. Ihre gesamte verkaufte Auflage, zwei Drittel der Auflage aller belorussischen Tageszeitungen und Zeitschriften, geht selten über die 800.000 hinaus – bei einer Bevölkerung von 10,2 Millionen. Und das ist natürlich zu wenig, um alle Weisheit des Vaters unters Volk zu bringen – weshalb Genosse Zametalin auch die Pflichtsitzungen zur politischen Information für alle Arbeiter wiederhergestellt hat.
Verrückterweise hat dieser pensionierte Oberst Wladimir Zametalin einmal der Wahlkampagne des früheren belorussischen Führers Wyatschaslaw Kebitsch vorgestanden, als der sich 1994 um die Präsidentschaft bewarb, und in diesem Zusammenhang eine böse Schmutzkampagne gegen Lukaschenka dirigiert, der zu diesem Zeitpunkt übrigens keinerlei Zugang zu den Medien hatte. Resultat dessen war, daß Lukaschenka versprach, daß er, falls er Präsident würde, die belorussische Presse das erste Mal in ihrer Geschichte
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zu einer freien machen würde.
Sobald er seinen Eid geschworen hatte, heuerte sich Lukaschenka – in Anerkenntnis wohl seiner großartigen Propagandafähigkeiten – seinen früheren Verfolger als Chef der Nachrichten- und Öffentlichkeitsabteilung an. Offiziell ist diese Abteilung das Presseamt des Präsidenten – aber jeder weiß, daß sein Einfluß das gesamte öffentliche Leben prägt. Jede Zeitung, jedes Buch, jede Fernseh- und Radiosendung, alle Film- und Theateraufführungen werden von dort nach den leisesten Anzeichen von Aufmüpfigkeit abgesucht.
Das Büro verbot alle Schulbücher, die in der „Tauwetterperiode“ zwischen 1991 und 1994 erschienen sind, um den Schulkindern die Geschichte des eigenen Landes beizubringen und nicht die des „heiligen Rußlands“ oder des „heroischen Sowjetvolkes“. Sie mußten wieder zugelassen werden, weil es noch keine Bücher gab, die der offiziellen, präsidialen Auffassung von Geschichte nahekamen.
Diese Auffassung zeichnet sich aus durch den Glauben an eine mystische „Einheit aller Slawen“ gegen den Rest der Welt und begründet seine Abschau vor persönlichen Freiheiten damit, daß diese dem „orthodoxen Slawentum fremd“ seien. Die daraus entstehende Paranoia wurde deutlich, als am 12. September 1995 zwei US- amerikanische Heißluftballonflieger als „Spione“ abgeschossen wurden, obwohl sie sich pflichtgemäß eine Überflugerlaubnis über unsere Republik eingeholt hatten.
Ende Oktober 1995 wurde Genosse Zametalin auf heimliche Mission in den Irak geschickt, um Saddam zu seinem überzeugenden Sieg im Referendum zu gratulieren. Lukaschenkas Helfer sind seit einiger Zeit schwer damit beschäftigt, die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, daß „die internationalen Sanktionen, die der westliche Imperialismus gegen das friedliche irakische Volk verhängt hat, ungerecht sind und deshalb nicht beachtet werden sollten“.
Mancher sieht hier den Anfang einer Achse Moskau-Minsk-Bagdad entstehen – Großeurasia. Unser kleiner aber stolzer Staat stärkt auch täglich seine Bindungen mit Kuba und Nordkorea, beide keine Kandidaten für die begeisterte Zulassung einer freien Presse.
Wir sind derzeit in der dritten Phase der vom Vater versprochenen Entwicklung einer freien Presse. Die erste war im Dezember 1994, als der stellvertretende Oppositionsführer Siarhiej Antontschik die Korruption der väterlichen Entourage angriff. Zeitungen, die seinen Bericht zu veröffentlichen wollten, erschienen am nächsten Tag mit weißen Flecken; Chefredakteure der staatlich geförderten Presse wurden entlassen.
Die zweite Phase trat ein im Vorfeld des Referendums vom Mai 1995. Und die dritte Phase, die heutige, muß dafür sorgen, daß bis zur Wahl des neuen Parlaments am 29. November alles gutgeht. Zwar hat Lukaschenka klargemacht, daß ihm das ganze Regierungsgeschäft ohne Parlament eigentlich lieber ist, aber da der Westen repräsentierende Institutionen liebt und das Land ausländisches Kapital und Know-how gut gebrauchen kann, ist er bereit, sich zu fügen – vorausgesetzt, die Abgeordneten können ohne Dreinreden der Presse in Ruhe gewählt werden.
Lukaschenkas Versuche, die Presse der Opposition zu zerstören, haben bisher ihren Einfluß nur gestärkt. Trotz der Verfolgung – und vielleicht deswegen – sind aus schüchternen kleinen Broschürchen ernsthafte und verantwortliche Publikationen geworden. Alexander Bely
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