: Bizarre Wege der Demokratie
Einmal Unabhängigkeit und zurück: Präsident Lukaschenka will zurück zu Rußland. Belarus tut sich schwer mit seiner nationalen Identität. „Wüßten wir nur so gut über Belarus Bescheid, wie die Leute in Papua-Neuguinea!“ ■ Von Vera Rich
Die Republik Belarus, ein ehemals sowjetischer Staat mit 10,2 Millionen Einwohnern, hat die Unabhängigkeit nicht so sehr erkämpft – vielmehr wurde sie ihr auferlegt. Im August 1991 erklärten sich die Hardliner-Kommunisten in der Führung offen solidarisch mit den Anti-Gorbatschow- Putschisten in Moskau. Als der Putsch zusammenbrach, machten sie aus Angst vor der Rache Gorbatschows ganz schnell gemeinsame Sache mit der winzigen Gruppe demokratischer Abgeordneter im Minsker Parlament und erklärten am 25. August 1991 die Unabhängigkeit der Republik Belarus.
Auf dem Papier ist Belarus schon seit 40 Jahren unabhängig. Wie die Ukraine war auch Belarus nämlich Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und mit einer eigenen Stimme auch in UN-Institutionen wie Unesco und der Internationalen Atomenergieagentur IAEA vertreten.
Aber dieser Trick Stalins, sich zwei Extrastimmen in der UNO zu verschaffen, war kein Schutz gegen die längerfristigen Ziele der Politik der „slijanie“, der Verschmelzung von mehr als hundert Ethnien zu einem einzigen russischsprachigen Sowjetvolk – trotz aller Rhetorik von den kulturellen und linguistischen Rechten der nichtrussischen Nationen, die immerhin fast die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung ausmachten. Und in einer Entscheidung, die man sich hütete, öffentlich auszuposaunen, wurde Belarus von den Sowjetideologen zum Testfall dieser Politik erhoben.
In vieler Hinsicht war das ein guter Griff. Schon im 19. Jahrhundert war Belarus einer intensiven Russifizierung ausgesetzt, seine Sprache verboten und seine Mehrheitsreligion, die im Ritual östlich orientierte katholische Kirche, die ansonsten wie in der westlichen Ukraine womöglich als Wächter nationaler Kultur hätte fungieren können, zwangsweise mit der russisch-orthodoxen Kirche vereinigt. Nach einer kurzen Phase der „Renationalisierung“ um 1905 und noch einmal in den zwanziger Jahren wurde die intellektuelle Elite von Belarus in den Dreißigern nahezu vernichtet, entweder erschossen oder durch Terror zum Schweigen gebracht.
Der Zweite Weltkrieg bedeutete den Verlust eines ganzen Viertels der Bevölkerung, einschließlich der jahrhundertealten jüdischen Gemeinden. Die Juden von Belarus hatten, wie sie immer wieder selbst gesagt und geschrieben haben, mit ihren christlich-slawischen Mitbewohnern in friedlicher Symbiose gelebt.
Während des Kalten Krieges war das Land das am stärksten militarisierte Gebiet der gesamten Sowjetunion und der westlichste Aufmarschplatz sowjetischer Panzer gegen die Nato-Mächte. Und da man in der Sowjetunion fast nie in der eigenen Republik seinen Militärdienst ableisten durfte und das Russische die Militärsprache des Riesenreiches war, wurde auch die starke militärische Präsenz zu einem formidablen Instrument der Russifizierung.
Slijanie funktionierte. Anfang der achtziger Jahre existierte keine einzige Schule in der Hauptstadt Minsk mehr, in der belarussisch gesprochen wurde. Und da natürlich auch die Ausbildung der Lehrer russischsprachig war, wurden mit der langsamen Pensionierung älterer Lehrkräfte auch die ländlichen Schulen, in denen die Sprache überlebt hat, durch den Druck der Verhältnisse vollkommen russifiziert.
Da es kein anderes einigendes Moment gab – wie beispielsweise die katholische Kirche im benachbarten Litauen –, wurde die Sprache zum Thema für alle, denen die nationale Identität am Herzen lag. Die wenigen Samisdat-Schriften und dissidenten Aktionen in Belarus während der Breschnew-Ära konzentrierten sich auf die Rettung der Sprache. Der erste Ausdruck von Glasnost in Belarus war im Dezember 1986 ein „Brief an Gorbatschow“, den 28 prominente Intellektuelle unterschrieben hatten; sie forderten die kulturellen und linguistischen Rechte ein, die ihnen die sowjetische Konstitution versprochen hatte.
Aber das Sprachenproblem reichte nicht, um eine Oppositionsbewegung in Gang zu setzen. Zwei wichtige Ereignisse der späten Achtziger waren dafür nötig: Erstens die Ausgrabungen im Freizeitgebiet von Kurapaty, die der damals noch unbekannte Archäologe Zianon Pazniak 1988 vornahm, wobei die Überreste Tausender (manche sprechen von 200.000) Opfer stalinistischer Erschießungen zutage kamen – einige wurden durch Kleidung oder Schmuck von überlebenden Angehörigen identifiziert.
Zweitens wurde – und das war fast noch traumatischer – im Februar 1989 das wirkliche Ausmaß radioaktiver Verseuchung durch den Reaktorunfall in Tschernobyl bekanntgegeben. Die bis dahin geheimgehaltenen Karten und Daten, die der Nuklearphysiker Professor Dr. Stanislaus Schuschkiewitsch schließlich veröffentlichte, zeigten, daß mehr als 20 Prozent des Territoriums von Belarus schwer verseucht waren.
Drei Jahre lang war in weiten Teilen dieser Gegenden die landwirtschaftliche Produktion weitergegangen ohne jede Sicherheitsvorkehrungen für die Einwohner. Hinzu kam noch die Entdeckung zweier besonders auffälliger „heißer Stellen“, weit von den hauptsächlich verseuchten Gebieten entfernt. Dort war radioaktiver Regen niedergegangen, von dem es jetzt hieß, daß er nicht zufällig hier – und nicht erst in Moskau – niederkam. Hatte man, wie Gerüchte besagten, die Wolken „beschossen, um die sowjetische Hauptstadt vor der Katastrophe zu retten“? Sowjetische Behörden weisen dies strikt zurück – aber viele Wissenschaftler, die sich mit den Karten der radioaktiven Verseuchung eingehend beschäftigt haben, wollen diese Theorie bis heute nicht ausschließen.
Der Schock dieser Enthüllungen rief verschiedene Bürgerinitiativen ins Leben, die sich unter dem Dach der Volksfront, die ursprünglich „Volksfront zur Erneuerung der Perestroika in Belarus“ hieß, zusammenfanden. Bei den ersten Wahlen zum Obersten Sowjet von Belarus im März 1990, bei denen sich mehr als eine Partei beteiligen durfte, unterstützten sie Kandidaten, die für Demokratie und Unabhängigkeit eintraten; 38 wurden gewählt (insgesamt gab es 360 Sitze). Um die Demokraten zu beschwichtigen, gab man einem von ihnen, Schuschkiewitsch, den Posten des Stellvertretenden Parlamentssprechers, woraufhin er der einzig Moderate in einem ansonsten durch und durch kommunistischen Establishment wurde.
Pronationale Gesetze wurden verabschiedet, das Belarussische zur Staatssprache gemacht, und am 27. Juli 1990 wurde Belarus zum souveränen Staat ausgerufen. Wenige Tage später, am 6. August, rief eine Gruppe junger Leute mit Unterstützung der Gesellschaft für die Sprache von Belarus die Wiederherstellung der lange verbotenen katholischen Kirche östlicher Prägung aus – ein Akt, der nicht nur die kommunistische Führung von Belarus, sondern auch den Vatikan provozieren mußte, der seine vorsichtige Realpolitik im Osten nicht gerne gefährdet sah.
Mit der Unabhängigkeit wurden die sowjetischen Symbole ersetzt durch die weißrotweiß gestreifte Fahne mit dem Pahonia
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(Ritter zu Pferde) – Symbole aus der Zeit des Großfürstentums von Litauen und Rus. In Schulen und Universitäten wurden Schnellkurse in Belorus angeboten.
Als der kommunistische Parlamentssprecher zurücktrat, wurde Schuschkiewitsch automatisch sein Nachfolger und damit, bei Abwesenheit des Präsidenten, dessen Stellvertreter. Halboffizielle Nachrichtenbulletins wurden zu ausgewachsenen, offiziell registrierten Zeitschriften, Minderheitenreligionen – einschließlich der östlichen Katholiken – wurde ein offizieller Status eingeräumt, und man begann mit der Rückgabe von Kircheneigentum, das durch die Sowjets konfisziert worden war. Ein ganzes Bündel identitätsstiftender Initiativen wurde ergriffen, darunter die vom Außenminister Krautschanka begonnene Suche nach einem symbolisch hochbedeutsamen Schatz aus dem 12. Jahrhundert, dem im Zweiten Weltkrieg verschwundenen Kreuz der Heiligen Euphrosyne von Polatsak, dessen Form des doppelten Querbalkens ebenso den legendär-heidnischen Gott Jarila symbolisierte.
Wirtschaftlich jedoch ging es dem neuen Staat schlecht. Die Folgen von Tschernobyl verbrauchen 15 Prozent des Bruttosozialprodukts; die russischen Öl- und Gaslieferanten fingen an, für ihre Produkte Weltmarktpreise zu verlangen. Hinzu kam, daß 70 Prozent der Industrie von Belarus in sowjetischer Zeit im weitesten Sinne Militärproduktion war – und das Wettrüsten war vorbei. Hardliner in Regierung und Parlament blockierten Reformen in Richtung Privatisierung von industrieller und landwirtschaftlicher Produktion und verschreckten dadurch mögliche ausländische Investoren, die sich bald auf die baltischen Staaten zurückzogen, in denen die industrielle Basis ähnlich war.
Der erste Gegenschlag kam im Dezember 1993. In der Öffentlichkeit existierte kein genaues Bild von den Gründen der wirtschaftlichen Krise, den permanent steigenden Preisen und fallenden Löhnen: Schuld waren die da oben, korrupt allesamt. Alaksandr Lukaschenka, Abgeordneter und ehemals konservativer Kommunist, warf Schusckkiewitsch Korruption vor. Obwohl die Vorwürfe völlig unbegründet waren, trat Schuschkiewitsch, der im Parlament einen Herzinfarkt erlitt, sofort zurück. Als wenige Wochen später die Wahlkampagne um die Präsidentschaft des Landes begann, ließ Lukaschenka sich aufstellen und versprach in seinem populistischen Programm wirtschaftlichen Aufschwung und hartes Durchgreifen gegen Korruption – allerdings ohne zu sagen, wie er das anstellen wollte. Ohne Erfahrung im Vergleichen und Beurteilen politischer Versprechungen und Programme und in der Hoffnung, daß alles andere besser sei als die Stagnation der letzten drei Jahre, entschied sich das Wahlvolk von Belarus für Lukaschenka.
In den 18 Monaten seiner Präsidentschaft hat Lukaschenka, früher Vorsitzender einer Kolchose, nicht eines seiner Versprechen auf wirtschaftliche Verbesserung erfüllen können. Den sozial Schwächeren wurden im Gegenteil die Freifahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gestrichen. Keinen Schritt vorwärtsgekommen ist die Privatisierung in Industrie und Landwirtschaft, und mehrere Großinvestoren, die sich in Joint-venture-Verhandlungen befanden, haben sich zurückgezogen. Lukaschenka erhofft sich wirtschaftlichen Aufschwung von engeren Verbindungen mit der Russischen Föderation, aber die vielgelobte Zollunion mit Rußland hat Belarus keine echten Vorteile gebracht. Die demokratischen Politiker und Marktwirtschaftler Rußlands haben für Lukaschenkas Vorschläge keine Verwendung. Seine prorussische Politik ließ sich Lukaschenka mit einem Referendum im Mai 1995, bei dem es unter anderem um eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Rußland ging, absegnen. In den Medien gab es keine Diskussion anderer Positionen. An dieser Front hatte der Präsident Erfolg. Sein Wunsch aber, die neue Fahne wieder durch die alte (minus Hammer und Sichel) zu ersetzen, fiel durch; dennoch erklärte er einfach, daß das Volk ihm auch in dieser Frage gefolgt sei.
Der Mißerfolg der lange aufgeschobenen Parlamentswahlen im Mai 1995 (in 141 Bezirken erreichte die Wahlbeteiligung nicht die gesetzlich vorgeschriebene Prozentzahl) erlaubte ihm sechs Monate Regierung durch präsidiale Erlasse.
Das Land wurde mit Direktiven bombardiert, unter anderem auch einer Liste von sogenannten Kadern, die ohne seine schriftliche Einwilligung das Land nicht verlassen durften (darunter Universitätspräsidenten und Chefredakteure der großen Zeitungen) sowie ein Totalverbot aller Textbücher für geisteswissenschaftliche Fächer, die seit 1992 neu herausgekommen waren.
Nicht weniger seiner so dem Volk annoncierten Wünsche sind vom Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig bezeichnet worden, Lukaschenka akzeptiert diese Urteile jedoch nicht. Er operiert nach einer sehr einfachen Logik: Die Verfassung besagt, daß Belarus eine Präsidialrepublik ist, er ist der Präsident, ergo ist jede Entscheidung, die er fällt, verfassungskonform und jeder, der ihm widerspricht, ein Verfassungsbrecher.
Innerhalb der letzten 18 Monate hat er die Entfernung der Übertragungselektronik aus dem Parlament angeordnet, Sondereinheiten der Polizei geordert, um Abgeordnete verhaften zu lassen, den Austausch unbequemer Chefredakteure befohlen und versucht, die wenigen Zeitungen, die ihn zu kritisieren wagen, wirtschaftlich zu zerstören.
Er hat die neu gegründeten Gewerkschaften verboten, die Führer des Metrostreiks vom August 1995 verhaften lassen und seine Unterstützer zur Kartoffelernte geschickt. Zwar werden die meisten seiner Dekrete offiziell publiziert, aber die Hinweise mehren sich, daß daneben ein System unveröffentlichter Befehle existiert, die als telefonisch überbrachte „Winke“ seiner Helfershelfer weitergegeben werden.
Angesichts all dessen kann es nicht verwundern, daß die vorherrschende Stimmung in Belarus düster ist. Die politisch bewußteren Intellektuellen und Jugendlichen versuchen, den Geist der Demokratie am Leben zu erhalten. Der PEN-Club von Belarus bemüht sich, wenigstens das Konzept der freien Rede in Wort und Bild aufrechtzuerhalten. Und ein positives Beiprodukt von Lukaschenkas Einmannherrschaft ist, daß sich die russisch und belarussisch schreibenden Intellektuellen einander angenähert haben.
Das notorische Referendum vom Mai 1995 hat das Russische als gleichgeordnete Sprache wiedereingeführt und damit das Unabhängigkeitsprogramm der positiven Diskriminierung effektiv abgewürgt. Falls Lukaschenka jedoch gehofft hat, hiermit das Land entlang einer Sprachgrenze spalten zu können und die „Sprachpatrioten“ beiseitezuschieben, dann hat er sich getäuscht. Seine Methoden werden von den Demokraten beider Seiten gleichermaßen verabscheut. Die „allerpatriotischste“ Zeitung, die 14tägig in Belarus erscheinende Svaboda (Freiheit) publiziert jetzt regelmäßig eine Seite politischer Kommentare auf Russisch.
Ein politischer Witz dieser Gegend besagt, daß, wenn die Panzer kommen, die Polen zur Attacke reiten, Russen sie mit blanken Fäusten angreifen und die Einwohner von Belarus sich tief eingraben und sie drüberrollen lassen.
Aber selbst der unerschütterbarste Optimist sieht eine demokratische Entwicklung für Belarus nur an einem sehr fernen Horizont scheinen. Am 10. Dezember wählte die Bevölkerung im vierten Anlauf endlich ein beschlußfähiges Parlament; 191 von 260 Sitzen wurden besetzt, aber die Unabhängigkeitspartei BNF fiel durch. Einige wenige demokratische Kandidaten, unter ihnen der frühere Parlamentssprecher Stanislaus Schuschkiewitsch, sind wiedergewählt worden und könnten den Kern einer möglichen Opposition für Lukaschenka bilden. Aber die Art und Weise, wie die Wahlen abgehalten wurden, unterstreicht die bizarren Wege der Demokratie in Belarus. Als der Parlamentssprecher Miackislaus Hryb dem Wahlvolk erklären wollte, wie wichtig es sei, daß möglichst viele zur Wahl gehen, damit ein beschlußfähiges Parlament zustande käme, durfte er nicht im nationalen Fernsehen auftreten. Das russische Fernsehen gab ihm Sendezeit, woraufhin Präsident Lukaschenka „aus technischen Gründen“ das russische Fernsehen an diesem Abend in Belarus nicht auf Sendung gehen ließ. Am Ende konnte Hryb zum Wahlvolk sprechen – allerdings nur via Radio Liberty in Prag...
Als nach dem Verbot der neugegründeten Gewerkschaften die Gewerkschaft von Papua-Neuguinea ein Solidaritätstelegramm nach Minsk schickte, kommentierte Svaboda: „Wie schön wäre es, wenn wir hier in Belarus ebenso gut Bescheid wüßten darüber, was in Belarus passiert, wie die Bürger von Papua-Neuguinea.“
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