■ Das Aufmucken der Ost-CDU ist nur von kurzer Dauer: Unser aller Breschnew
Deutschland biete ein Bild der „vollkommenen Stagnation“, schrieb Benedikt Erenz vor anderthalb Jahren in der Zeit. Er hatte gerade Enzensbergers Essay über Michael Gorbatschow („Die Helden des Rückzugs“, 1989) noch einmal gelesen und konnte sich plötzlich von diesem Bild nicht mehr lösen. Die deutschen Politiker verglich er mit Leonid Breschnew, der diese Stagnation so vollendet verkörpert hat. Die Kohls, Scharpings, Herzogs und Raus nannte Erenz „unsere Breschnews“.
Wir Ostdeutschen sind den Westdeutschen um eine Erfahrung voraus: Unsere Breschnews sind schon in der Versenkung verschwunden.
Vor diesem Hintergrund, daß die Ostdeutschen den Westdeutschen eine Wende voraus haben, daß die Ostdeutschen erlebt haben, wie das ist, wenn ein Land mit seiner Ideologie und seinen Institutionen in sich zusammenfällt, wenn ganze Industrieregionen über Nacht sterben und man über 3.000 Arbeitslose bei Grundig und die Aufregung, hier drohe eine deutsche Firmengeschichte zu Ende zu gehen, nur noch müde lächeln kann – vor diesem Hintergrund ist das Strategiepapier zu lesen, das die CDU in Mecklenburg-Vorpommern vorgelegt hat. Darin wird die ritualisierte Politik der CDU in scharfen Worten kritisiert. Und CDU steht hier unausgesprochen immer für „den Westen“. Deswegen ist das Bemerkenswerteste an diesem Papier, daß es aus ostdeutschen CDU- Kreisen kommt und nicht von der PDS. Das beweist, wie tief die Enttäuschung im Osten mittlerweile ist.
Fraglich ist nur, ob aus dieser Enttäuschung, ob aus dem Erfahrungsvorsprung des Ostens die CDU Kapital schlagen kann, wie das Strategiepapier vorgibt, mehr noch, ob daraus überhaupt Politik gemacht werden kann. Die Reaktionen auf das Papier einen Tag nach dessen Veröffentlichung haben diese Frage grob, aber in gewisser Hinsicht auch eindeutig beantwortet. Von den ostdeutschen CDU-Chefs wollte plötzlich keiner mehr etwas mit dem Papier zu tun haben. Bergner aus Sachsen-Anhalt war „alarmiert“ und zeigte sich als braver Parteisoldat: Die CDU besitze mit ihrem Grundsatzprogramm eine „hervorragende Voraussetzung, um die Werte der freiheitlichen Gesellschaft und der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft gegen sozialistische Bündnisse zu verteidigen“. Genau! „Mit ihrer angeblichen Bequemlichkeit erarbeiten die Westdeutschen immerhin die Transferleistungen, auf die die neuen Länder angewiesen sind“, assistierte ihm der Chef der sächsischen CDU, Hähle. So kann der Osten eben auch sein: zurückhaltend und dankbar. Regiert wird schließlich in Bonn. Von unser aller Breschnew. Jens König
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