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Deutschland, ein Wintermärchen

■ Mit mehr als 4,15 Millionen Menschen erreicht die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland eine neue Rekordhöhe. Die Ursache für den starken Anstieg findet Bernhard Jagoda von der Bundesanstalt für Arbeit in „extremer Kälte“

Nürnberg (taz) – Die Arbeitslosigkeit ist im Januar auf den höchsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik gestiegen: Ende des Monats waren genau 4.158.960 Menschen ohne Arbeit. Die Arbeitslosenquote kletterte damit von 9,9 Prozent im Dezember auf 10,8 Prozent. „Diese traurige Zahl muß uns alle aufrütteln“, betonte Bernhard Jagoda, Präsident der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit (BA). Er forderte, wie auch schon in den Monaten zuvor, ein „ganzes Bündel von Antworten“. Konkrete Details ließ er aber vermissen.

Während nun fast jeder neunte in Deutschland ohne Arbeit ist, können sich die Arbeitsämter über fehlende Arbeit nicht beklagen. Sie registrierten in den alten Bundesländern 2,9 Millionen, im Osten 1,26 Millionen Arbeitslose. Das sind insgesamt 368.000 Arbeitslose mehr als noch im Dezember und 308.900 mehr als vor einem Jahr. Diesen „mehr als gewöhnlichen“ Zuwachs führte BA- Chef Bernhard Jagoda „zum weitaus größten Teil auf die extreme Kälte“, aber auch auf das stockende Wirtschaftswachstum und die rückläufige Arbeitsmarktpolitik zurück.

Arbeitsbeschaffungs-, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, Kurzarbeit und Vorruhestandsregelungen entlasten den Arbeitsmarkt derzeit nurmehr um 1,46 Millionen – das sind 290.000 weniger als noch im Januar 1995. Der Hauptanteil des Rückgangs ist auf das Auslaufen der Vorruhestandsregelungen in den neuen Bundesländern zurückzuführen.

Daß damit insgesamt in Deutschland fünf bis sechs Millionen Arbeitsplätze fehlen, wollten Jagoda und seine Chefstatistiker gar nicht bestreiten. Ein Operieren mit derartigen Zahlen hält der Chef der Bundesanstalt für Arbeit jedoch für „unseriös“. „Ich wehre mich dagegen, alles zusammenzuzählen“, betonte er. Seine Behörde habe eine genaue Statistik und arbeite „mit gesetzlichen Definitionen“.

Genau definiert ist bei der BA das Zustandekommen des deutschen Rekords. Aufgrund der anhaltenden extrem kalten Witterung sei vor allem die Bauwirtschaft eingebrochen. Ein Großteil der Arbeitslos-Meldungen und auch der Kurzarbeit betreffe diese Branche. Die wirtschaftliche Stagnation vor allem in den alten Bundesländern tue ein übriges.

Jagoda warnte jedoch davor, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausschließlich auf das Wachstum zu vertrauen. Auch mit einem „tüchtigen Wachstum“ sei die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht zu beseitigen. Dazu bedürfe es einer Mischung aus „Innovation, Investition, Arbeitszeitflexibilisierung und tarifpolitischen Maßnahmen“. Es sei höchste Zeit, „das egoistische Beharren auf Einzelinteressen“ zu beenden. Der neue Nachkriegsrekord könnte im Februar noch überboten werden. „Den Knick zum Besseren erwarten wir erst im März“, sagte Jagoda. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer sieht „einen Flächenbrand am Arbeitsmarkt“.

Besonders verärgert zeigte sich Jagoda über die vorzeitige Bekanntgabe der aktuellen Zahlen in der Frankfurter Rundschau. Er wolle alles tun, um dieses „Schlupfloch zu stopfen“. Das Ausplaudern der Daten wertet der Chef der Nürnberger Bundesanstalt als „unfreundlichen Akt und Vertrauensbruch“. Bernd Siegler

Tagesthema Seite 3

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